Nephilim
kühlen, abweisenden Windhauch, der jeder Schule anzuhaften schien, die er bislang besucht hatte.
Sie traten in eine große Empfangshalle, aus der zu beiden Seiten Gänge hinausführten. Eine breite, aus massivem Holz bestehende Treppe nahm fast den gesamten Eingangsbereich ein und führte in die oberen Stockwerke. Vorsichtig strich Nando über das Geländer, selbst dieses war kühl, als hätte es die Stille in sich aufgesogen und würde sie nun absondern mit lautlosem, spöttischen Lachen. Vor der Treppe, eingefasst in goldene Streben, erhob sich ein grüner Kristall. Er glomm in ruhigem Licht, feine Adern liefen von ihm fort über den Boden und rankten sich wie die Auswüchse einer Pflanze an den Wänden entlang und die Treppe hinauf. Es sah aus wie ein Netzwerk aus Kraft, das den gesamten Turm durchzog. Antonio trat auf den Stein zu, und als er die Hand darauf legte, wurde das Licht heller. In schwachen Impulsen glitten glühende Wellen von dem Stein über die Adern, und für einen Augenblick erstrahlte die Eingangshalle in einem kristallenen und verzauberten Licht.
Nando fühlte den glimmenden Schein wie tanzende Reflexe auf seinem Gesicht, und ein Lächeln zog über seine Lippen, als er hinter Antonio die Treppe hinaufging. Im ersten Stockwerk aktivierte der Engel mit leisem Fingerschnipsen eine Säule aus Licht, in der sie wie durch Zauberhand aufwärts befördert wurden. Staunend sah Nando zu, wie sie zwei Decken durchbrachen, ohne auch nur etwas davon zu spüren, ehe sie sich in einem weiteren Treppenhaus wiederfanden. Zielstrebig folgte Antonio einem langen Gang, an dessen Ende sich eine Fensterfront mit einer schmalen Tür befand, deren einzelne Läden offen standen. Ein Duft wie von Blumen strömte herein, und als Nando hinter Antonio nach draußen trat, fand er sich in einem Garten wieder, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Flammende Büsche standen in Gruppen beisammen, Bäume mit glitzernden Blättern erhoben sich in der Dämmerung, und Ranken ergossen sich über Mauervorsprünge und Hecken wie Flüsse aus Blüten. Schmale Kieswege schlängelten sich um die Bäume, und Glühwürmchen flogen in Schwaden durch die Nacht.
Nando wandte den Blick und stellte fest, dass sie sich auf einem der Auswüchse des Mal’vranons befanden. Niemals hätte er erwartet, dass diese so groß waren. Sie gingen einen der Wege hinab und gelangten auf die hufeisenförmige Orchestra eines Theaters im Stil der Antike. Vereinzelt wuchsen Glutbäume auf den Rängen und hatten ihre Wurzeln tief in den Stein gegraben. Auch hier zogen sich die Adern des grünen Kristalls aus der Eingangshalle hin, drangen teilweise in den Boden ein und wuchsen in der Mitte der Spielfläche wie ein Dorn aus einem kunstvoll gearbeiteten Mosaik. Statt auf ein Proskenion oder ein Bühnengebäude fiel der Blick auf die Stadt. Nando schaute hinab zum Sternenplatz und zu den Häusern, die sich unter ihnen ausbreiteten wie ein Meer aus Licht und Dunkelheit.
»An diesem Ort wurde Bantoryn gegründet«, sagte Antonio ehrfürchtig. »Hier legten die Ersten der Stadt ihren Eid ab, und noch heute tritt jeder Nephilim vor den Senat, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. So wie du in dieser Nacht. Die Senatoren wurden bereits benachrichtigt. Bald schon werden sie eintreffen.«
Nando nickte, während sein Blick zu den umliegenden Stalagmiten hinaufglitt, auf denen etliche Auswüchse nur darauf zu warten schienen, Besucher zu empfangen. »Damit ich ein Teil der Schattenwelt werde«, murmelte er. »Das sagtest du doch, als wir Olvryon begegnet sind, nicht wahr?«
Antonio strich über den grünen Stein, samtener Staub blieb an seinen Fingern haften. »Ich sagte, dass du Teil der Schattenwelt werden musst – jener Teil, der du immer schon warst.«
»Ich bin ein Tellerwäscher«, erwiderte Nando leise. Er spürte noch immer den Schleier der Mohnblumen auf seinem Gesicht und die fast zärtlichen Lichter des grünen Steins, aber nun, da er auf die Senatoren der Stadt wartete, kroch ein sandiges, kaltes Gefühl seinen Rücken hinab und ließ ihn frösteln. »Ein Tellerwäscher unter Engeln, Magiern und Rittern. Ich bin kein Teil der Schattenwelt.«
Antonio sah ihn an. »In der Menschenwelt hast du eine Maske getragen, die du hier unten nicht brauchst. Im Gegenteil wird sie dich nur behindern auf deinem Weg, denn hier bist du ein Nephilim, mehr noch: Du bist der Teufelssohn. Himmel und Hölle machen Jagd auf dich – diesen Aufwand würden sie nicht
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