Nephilim
Aschemarkt. Doch er hätte niemals damit gerechnet, dass seine Geige von einem Dschinn als Heim auserkoren worden war – noch dazu von einem derart haarigen.
»Vermutlich kennst du dich mit Wesen meinesgleichen nicht besonders gut aus«, stellte Kaya fest und musterte Nando prüfend. »Das macht gar nichts. Mit der Zeit werden wir uns aneinander gewöhnen, da bin ich mir sicher, und … «
Nando hob beide Hände. »Warte«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Du … «
»Ich entstamme dem Volk der Avontari«, erwiderte sie stolz. »Wir binden uns aus freien Stücken an einen Gegenstand der Künste und dienen dessen Träger in musischer Funktion. Nicht immer zeigen wir uns, und noch seltener gehen wir Beziehungen zum jeweiligen Träger ein, die über die Aufgabe der Muse hinausgehen. Du darfst dich also geehrt fühlen, dass ich mich entschlossen habe, mit dir zu sprechen. Aber ich denke, dass du es wert bist, ja, das könnte durchaus sein.«
Nando holte tief Atem, denn Kayas Worte hatten seine Verwirrung nicht gelöst. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, ließ er sich auf das Bett fallen – und bereute es sofort. Tausend Messerstiche jagten seine Beine hinab und ließen ihn vor Schmerzen das Gesicht verziehen. Sofort erhob sich Kaya in die Luft. Ihr Körper war leicht durchscheinend, doch als sie vor Nandos Gesicht auf und ab schwebte und prüfend über seine Stirn wischte, fühlte er ihre Finger wie die Hand eines Äffchens auf seiner Haut.
»Du bist verletzt«, stellte sie mit detektivischer Miene fest. »Und du hast keine Ahnung, was man dagegen tun kann. Man sollte doch annehmen, dass die Bücher da drüben für mehr gut sind als für dekorative Zwecke, oder etwa nicht?« Nando setzte zu einer Entgegnung an, doch Kaya wischte ungeduldig durch die Luft. »Schon gut. Kannst ja nichts dafür, dass du bisher ein einfältiges und uninspiriertes Leben führen musstest. Zum Glück bin ich jetzt da und kann dir helfen. Aufstehen, bitte!«
Sie schwirrte in die Luft und machte eine Handbewegung, die Nando in Vollendung an Drengur denken ließ – oder an einen winzigen Äffchenfeldwebel mit energisch toupierter Löwenmähne.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Einen Moment mal. Du bist ein Dschinn, du heißt Kaya, und du lebst in meiner Geige.«
»Falsch«, erwiderte Kaya und sprang aus der Luft auf den Spiegel, wo sie sich festkrallte und auf ihn niederschaute. »Ich lebe in meiner Geige. Sie hat nur zufällig beschlossen, bei dir zu bleiben, und da ich eine anständige Dschinniya bin, lasse ich sie selbstverständlich nicht allein. Dschinniya ist übrigens die weibliche Form eines Dschinns, und mein vollständiger Name lautet Kaya Amirah Feyza Al’ Jawahil.«
Nando zog die Brauen zusammen. »Warum habe ich erst jetzt gemerkt, dass du da bist? Ich meine, die Geige ist nun schon eine ganze Weile bei mir und … «
Kaya zuckte die Achseln. »Das ist eine Angewohnheit von euch Wesen aus Fleisch und Blut, dass ihr nie und nimmer etwas begreift. Jedenfalls nichts von dem, was wirklich wichtig ist. Das ist schade, natürlich, aber eben nicht zu ändern.« Sie legte den Kopf schief und schenkte Nando einen bedauernden Blick, ehe sie fortfuhr: »Im Übrigen hast du mich sehr wohl schon bemerkt, beispielsweise auf der Flucht vor den Engeln. Hast du etwa vergessen, wie wir gemeinsam musiziert haben? Abgesehen davon, dass dies eine ganz besondere Geige ist, steht eines fest: Nur das Instrument eines Dschinns oder eines Besessenen kann solche Töne hervorbringen, das lass dir gesagt sein – und meistens ist das ohnehin das Gleiche.«
Nando hatte die Musik, die er auf der Flucht vor den Engel zustande gebracht hatte, nicht vergessen, und nun erinnerte er sich auch wieder an das Lachen und die Augen, die er hinter seinen geschlossenen Lidern erblickt hatte.
»Du warst das«, murmelte er. »Aber warum hast du dich dort nicht gezeigt? Und warum jetzt?«
Kaya sog so tief die Luft ein, dass sie für einen Augenblick aussah wie ein mit purpurfarbenem Plüsch überzogener Ballon. Unwillkürlich musste Nando an Giorgio denken und daran, dass dem Taxifahrer ein solches Accessoire für seinen Wagen sicher gefallen würde. Dann atmete Kaya aus und nickte langsam. »Eine Dschinniya, mein Herr, ist ein besonderes Wesen. Wie ich schon sagte, offenbart sie sich nicht jedem. Yrphramar und mich verband eine enge Freundschaft, sein Verlust war weder für die Geige noch für mich leicht hinzunehmen. Außerdem hast du gesehen, wie
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