Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
Crumley.
»Ich sehe einen norwegischen Hurenbock, der zufällig Botschafter ist und dessen Ruf deshalb mit Rücksicht auf König und Vaterland geschützt werden muss.«
Sie blickte überrascht auf und fixierte ihn.
»Den Gestank kriegt man nicht weg, egal wie gut die Klim aanlage ist«, sagte er. »Aber da s ist mein Problem. Was diesen Typ angeht …«
Harry zog am Kiefer des toten Botschafters.
»Rigor mortis. Er ist s teif, aber die Todesstarre lässt langsam nach, was nach zwei Tagen ganz normal ist. Er hat eine blaue Zunge, aber das Messer deutet nicht auf einen Erstickungstod hin. Das muss überprüft werden.«
» Ist überprüft worden«, sagte Crum ley. »Der Botschafter hat Rotwein getrunken.«
Harry murmelte etwas.
»Unser Arzt sagt, der Tod sei irgendwann zwischen 16 und 22
Uhr eingetreten«, fuhr sie fort. »D er Botschafter hat sein Büro morgens um halb neun verlassen, und als die Frau ihn fand, war es bald 23 Uhr, was die Zeit ja ein wenig einschränkt.«
»Zwischen 16 und 22 Uhr? Aber das sind sechs Stunden.«
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»Richtig gerechnet, Detective.« Crumley verschränkte die Arme.
»Also«, Harry blickte zu ihr au f, »in Oslo können wir bei Opfern, die erst wenige Stunden tot sind, den Eintritt des Todes auf etwa zwanzig Minuten genau einschätzen.«
»Weil ihr da oben am Nor dpol wohnt. Bei fünfunddreißig Grad sinkt die Körpertem peratur nicht wesentlich. Der Zeitpunkt wird auf Basis des Rigor mo rtis errechnet, und das gibt nur eine ungefähre Zeitspanne.«
»Wie sieht’s m it Leichenflecken aus? Die sollten etwa nach drei Stunden auftreten.«
»Sorry. Aber wie Sie sehen, war der Botschafter ein Sonnen-anbeter, da sieht man die nicht.«
Harry fuhr mit dem Finger über den Anzug an der Einstichstelle. Auf seinem Fingernagel samm elte sich eine graue, vaseline-artige Substanz.
»Was ist das?«
»Die Waffe scheint eingefettet gewesen zu sein. W ir haben Proben genommen und zur Analyse geschickt.«
Harry durchsuchte rasch die Taschen des Toten und fischte ein braunes, altes Portemonnaie hervor. Es enthielt einen 500-Baht-Schein, einen Ausweis des Au swärtigen Amts und das Bild einer lächelnden Jugendlichen in einer Art Krankenhausbett.
»Haben Sie sonst noch etwas gefunden?«
»Fehlanzeige.« Crumley hatte sich die Mütze abgenommen und wedelte da mit, um die Fliegen zu vertreiben. »W ir haben seine Sachen überprüft, aber alles dagelassen.«
Er löste den Gürtel der Leiche, zog ihm die Hose herunter und drehte ihn wieder auf den Bauch. Dann schob er die Anzugjacke und das Hemd hoch. »Sehen Sie hi er, da ist etwas Blut a m Rücken nach unten gelaufen.«
Er zog die Unterhose herunter.
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»Und zwischen die Arschbacken. Also ist er wohl kaum im Bett liegenderweise erstochen worden, sondern im Stehen.
Wenn wir die Höhe der Einstichstelle und den W
inkel des
Stichkanals messen, können wir etwas über die Größe des Mörders sagen.«
»Wir gehen davon aus, dass der Täter oder die Täterin auf der gleichen Höhe stand wie das Opfer«, fügte Crumley hinzu. »Der Ermordete kann aber auch am Boden ersto chen worden sein.
Das Blut ist m öglicherweise nach unten gelauf en, als man ihn ins Bett gelegt hat.«
»Dann müsste Blut auf dem Te ppich sein«, sagte Harry, zog die Hose wieder hoch, schloss de n Gürtel, drehte sich um und sah ihr in die Augen.
»Außerdem müssten Sie dann kein e Spekulationen anstellen, sondern wären sich sicher, denn schließlich hätte Ihre Spurensicherung dann Teppichfasern an seinem Anzug finden m üssen, nicht wahr?«
Sie wich seinem Blick nicht aus, aber Harry erkannte, dass er ihren kleinen Test bestanden hatt e. Sie nickte leicht und er wandte sich wieder der Leiche zu:
»Plus ein weiteres viktimologisches Detail, das v ielleicht bestätigt, dass er Damenbesuch erwartete.«
»Ach ja?«
»Sehen Sie den Gürtel? Bevor ic h ihn geöffnet habe, war er zwei Löcher enger geschnallt als sonst üblich, was m an an
diesem ausgebeulten Lo ch erkennt. Ältere Männer mit zunehmender Bundweite schnüren sich gerne ein bisschen m ehr ein, bevor sie jüngere Frauen treffen.«
Es war schwer zu sagen, ob si e beeindruckt waren. Die Thai-Polizisten verlagerten ihr Körpergewicht vom linken auf den rechten Fuß und ihre jungen, vers teinerten Gesichter verrieten nichts. Crumley kaute sich ein Stück Nagel ab und spuckte es durch ihre zusammengepressten Lippen.
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»Und hier haben wir die Miniba r.« Harry öffnete die Tür des kleinen
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