Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
seiner Träume abgelegt hatte, musste es eigentlich ganz einfach sein. Er benötigte nur etwas, um den Kontakt zu seinem Traumbruder herzustellen, so etwas wie ein Telefon. Und so nahm er seine Flöte zu Hilfe. Schließlich war dieses Instrument schon einmal zwischen den beiden Welten hin- und hergewandert. Ja, vielleicht war sogar ebendiese Flöte der eigentliche Grund für das erste Zusammentreffen der beiden Traumbrüder gewesen. Möglicherweise war hier das »Telefon« installiert worden, mit dem er Yonathan nun rufen konnte.
In der kommenden Nacht spielte Jonathan auf seiner Flöte eine langsame Melodie, wie man sie in den Highlands von Schottland liebte, melancholisch und von anrührender Schönheit. Jonathan befürchtete schon, dass auf der Suche nach dem nächtlichen Ruhestörer jemand zur Tür hereinschauen könnte – sein Großvater vielleicht oder jemand von der Dienerschaft. Aber auf eine nicht erklärbare Weise fanden die Töne nur den Weg durch das Fenster.
Schon einmal hatte sich jenes Fenster, durch das man für gewöhnlich in den Park von Jabbok House hinausblickte, als ein Tor zu einer anderen Welt erwiesen. Deshalb war Jonathan wenig erstaunt, als sich vor den Scheiben ein seltsamer Schimmer zeigte. Das Licht stammte nicht von den Sternen. Hohe Wolken versperrten in dieser Nacht den freien Blick auf den Himmel. Schneeflocken peitschten schon seit dem Nachmittag durch die Luft. Nein, das Licht kam aus einem wabernden Nebel, der an die Stelle der ruhelos umherstiebenden Schneekristalle getreten war. Es schimmerte bläulich. Genau wie das Licht Haschevets, dachte Jonathan – als jemand aus dem Nebel trat.
Jonathans Traumbruder wirkte verwirrt. Seine Augen schienen etwas zu suchen. Bis sie schließlich auf Jonathan trafen, der inzwischen aus dem Bett geklettert war und sich in seinen Rollstuhl gehievt hatte.
Für eine lange Zeit blickten sich beide schweigend an. Minute um Minute verstrich. Aber das war ohne Bedeutung. Jonathan spürte, dass sein Zimmer, das Fenster, der Traumbruder und auch er selbst sich in einem Raum befanden, in dem die Zeit keine Rolle spielte.
Doch dann fiel Jonathan das Speiseeis ein.
»Ich habe ein Rezept für dich, Yonathan. Das Eis, du weißt schon. Ich bin über die Probe unterrichtet, die Zirgis dir abverlangt hat.«
Yonathans Gesicht entspannte sich.
Obwohl das Fenster die ganze Zeit geschlossen blieb, zweifelte Jonathan keinen Augenblick daran, dass sein Traumbruder ihn genau verstehen konnte, denn auch der Schall schien im Moment eigenen Gesetzen zu gehorchen.
Als Jonathan schließlich ans Ende seiner Erklärungen angelangt war, hatte sein Traumbruder noch immer kein Wort gesagt. Auch jetzt änderte sich nicht viel daran. Allenfalls ein Ausdruck von Dankbarkeit, Verständnis und Sorge spiegelte sich in dem unwirklich erhellten Antlitz Yonathans wider.
Dann verblasste die Szene. Das Licht wurde schwächer, der Nebel wallte noch einmal auf und hatte den langsam davontreibenden Yonathan schnell verschluckt.
Am nächsten Morgen fühlte sich Jonathan wie gerädert. Er hatte kaum die Kraft das Speisezimmer aufzusuchen, in dem sein Großvater und William Marshall gerade eine Diskussion über die Folgen der gut einen Monat zurückliegenden englischen Unterhauswahlen führten.
»Jonathan! Wie siehst du denn aus?« Lord Jabbok hatte seinen Enkel bemerkt – und war zu Tode erschrocken. »Du bist ja kreidebleich und hast Augenringe wie ein notorischer Nachtschwärmer. Geht es dir nicht gut?«
»Diese Frage hätte sich Euer Lordschaft getrost sparen können«, bemerkte der Butler Alfred, der gerade für Jonathan den Tee servierte.
»Es geht mir wirklich nicht besonders gut«, gab Jonathan zu.
»Vielleicht solltest du heute lieber im Bett bleiben, Jonathan.« Auch William Marshall klang sehr besorgt.
Jonathan zuckte müde die Achseln. »Es wird schon gehen.«
Aber es ging nicht. Jonathan hatte keinen Appetit, legte den Toast schon nach dem zweiten Bissen beiseite, trank nur eine Tasse Tee und zog sich wieder auf sein Zimmer zurück.
Später besuchte ihn sein Großvater. Der alte Lord, dem es selten gelang, zarte Gefühle zu zeigen, wirkte auffallend fürsorglich. »Das geht so nicht weiter«, brummte er vor sich hin. »Tag für Tag siehst du erbärmlicher aus. Ich werde umgehend nach einem Arzt schicken. Nicht irgendeinen Quacksalber. Einen richtigen Arzt werde ich kommen lassen.«
»Hoffentlich nicht Dr. Dick. Der kann durch seine Brille ja kaum noch was
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