Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Yehsir hatte noch etwas anderes mit einem Schatten gemein: Er war genauso wortkarg.
Jetzt saß der Schützende Schatten auf einem schwarzen Rappen neben Baltan, der auf einem schneeweißen Lemak thronte und wieder rief: »Wie lange soll ich denn noch warten? Öffnet endlich das Tor!«
Auf der Zinne der Mauer über dem Tor herrschte große Aufregung. Aus ihrem Versteck konnten Yonathan, Yomi und Felin deutlich das Aufblitzen von Harnischen, Schilden und Speerspitzen erkennen. Immer neue Fackeln wurden entzündet.
Man suchte wohl nach einem Verantwortlichen, denn nichts anderes war zu hören als das Klappern von Rüstungen und das Schlurfen eiliger Stiefel auf den Wehrgängen der Mauer. Endlich trat ein behelmter Wachsoldat vor und rief: »Wer seid Ihr, dass Ihr nicht wisst, welch unmögliches Ansinnen Ihr an die Wache gerichtet habt?«
»Ich habe lediglich verlangt eingelassen zu werden«, erwiderte Baltan. »Es ist kalt hier draußen – und dunkel! Wir möchten in den Schutz Eurer Stadt.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, entgegnete der Hauptmann harsch. »Nennt mir Euren Namen!«
»Ich weiß nicht, ob der Euch etwas sagt. Man nennt mich Baltan und ich bin als Tuchhändler unterwegs. Und hier, rechts neben mir, sitzt Sahavel, der Gesandte Goels am kaiserlichen Hof.«
Ein hämisches Lachen kam von der Höhe der Stadtmauer. »Natürlich! Baltan! Der Vertraute unseres Geliebten Vaters der Weisheit. Und Sahavel auch noch dazu. Dass ich nicht lache! Ich habe den edlen Kaufmann einmal auf einem Empfang an der Seite des Kaisers gesehen. Wenn Ihr Baltan seid, dann bin ich Bomas, des Kaisers Sohn, und der hier neben mir ist meine Mutter, die Kaiserin.« Mit den letzten Worten hieb der Befehlshabende auf die Schulter eines bärtigen Hünen.
Baltan drehte sich um, ließ sich von Yehsir eine Fackel geben und hielt sie nah an sein Gesicht. »Ich habe Bomas auf den Knien geschaukelt, als er noch ein kleiner Schreihals war. Außerdem wäre es mir an der Tafel des Kaisers bestimmt zu Ohren gekommen, wenn man den Obersten der südlichen Grenztruppen zu einem Hauptmann der Wache in Beli-Mekesch degradiert hätte.«
Als nun das Licht der Fackel Baltans Gesicht beleuchtete, entstand auf der Mauerkrone ein aufgeregtes Flüstern. »Er ist es wirklich!«, raunte jemand.
»Ihr müsst verzeihen, edler Baltan. Aber wie konnte ich ahnen, dass sich der nach dem Kaiser mächtigste Mann Neschans hier einfindet und mitten in der Nacht Einlass in unsere Stadt begehrt? Ich wähnte Euch bei den Feiern in Cedanor.«
»Könntet Ihr jetzt, da Ihr wisst, wen Ihr vor Euch habt, die Freundlichkeit besitzen und uns das Tor öffnen?«
Betretenes Schweigen. Der Hauptmann der Wache war in einer Zwickmühle von gewaltigem Ausmaß. Auf der einen Seite sah er sich dem einflussreichen Vertrauten des Kaisers gegenüber, auf der anderen Seite stand Zirgis’ eigener Befehl. Was sollte er tun? »Ich kann Euch trotzdem nicht einlassen. Selbst, wenn Ihr der Kaiser persönlich wäret, dürfte ich Euch nicht die Tore öffnen. Sein Wort ist Gesetz. Wo kämen wir hin, wenn…«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach Baltan den Soldaten. »Könnt Ihr es verantworten, wenn ich hier draußen, allein mit einem Kind, meiner Dienerschaft und einigen wehrlosen Handelsgehilfen, in die Hände mordlustiger Straßenräuber falle?«
Der Hauptmann musterte mit skeptischem Blick die »Handelsgehilfen« Baltans. »Mir scheint, edler Herr, so wehrlos seid Ihr nun auch wieder nicht.«
»Ach was. Alles nur zur Abschreckung. Was sagt Ihr dem Kaiser, wenn er erfährt, dass einer seiner engsten Ratgeber vor den Mauern Beli-Mekeschs – unter den Augen seiner eigenen Soldaten – hingemeuchelt worden ist?«
Wieder trat Schweigen ein. »Ich könnte«, schlug der Verantwortliche schließlich vor, »ich könnte dafür Sorge tragen, dass Euch nichts geschieht.«
»Und wie wollt Ihr das tun?«
»Wenn Ihr dort, wo Ihr jetzt seid, Euer Nachtlager aufschlagt, wenn ich meine Wache hier oben verstärke – alles im Lichte von zahlreichen Fackeln selbstverständlich –, dann sollte das wohl genügen jegliches Gesindel abzuhalten. Sobald dann morgen früh die Sonne aufgeht, werde ich Euch persönlich das Tor öffnen. Was haltet Ihr von diesem Vorschlag, ehrwürdiger Baltan?«
Der gab sich den Anschein, das Für und Wider reiflich abzuwägen. Er massierte sein Kinn und starrte gedankenverloren vor sich zu Boden. Endlich hob er den Blick und verkündete: »So soll es sein,
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