Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Yehsir verlor langsam die Geduld. »Sie sind hier, weil wir hier sind. Wir, Menschen mit eigenem Willen, vernunftbegabt – woran man allerdings zweifeln kann –, haben sie hierher gebracht. Freiwillig hätten sie das nie getan.«
»Eben. Ich glaube, dass das Pferd im Wadi auch nicht freiwillig hier war. Es trug einen Sattel, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Du glaubst…?«
Yonathan nickte. »Sethur.«
»Ich hatte gehofft, unsere Befürchtungen könnten wenigstens einmal nicht zutreffen. Warum kann uns dieser Heerführer Bar-Hazzats nicht da suchen, wo es jeder normale Mensch tun würde: am Nordufer des Cedan?«
»Vermutlich, weil Sethur kein ›normaler‹ Mensch ist.«
Lange haftete Yehsirs Blick auf Yonathans Gesicht. Dann nickte der erfahrene Wüstenführer langsam. Ein schiefes Lächeln lockerte seine markanten Züge auf. »So sind wir denn zu Verfolgern unserer Verfolger geworden. Das Leben istvoller Überraschungen.« Ernster fügte er hinzu: »Es ist gut, dass wir dieses Tal da drunten verlassen haben. Womöglich wären wir Sethur noch vor Anbruch der Nacht in die Arme gelaufen! Allerdings sind wir hier oben auf dem Kamm der Hügelkette auch nicht viel sicherer. Es wird Zeit, dass wir uns einen anderen Weg nach Abbadon suchen.«
Nachdenklich ließ Yehsir den Blick von einem zum anderen wandern. Dann sagte er: »Spätestens jetzt beginnt das Versteckspiel, meine Freunde.«
Erfreulicherweise dauerte das Unwetter nicht lang. Als die Sonne im Westen ihr Nachtlager bezog, waren die Kleider der Wüstenreisenden um Yonathan bereits wieder trocken. Viel mehr erfreute Yonathan allerdings der Umstand, dass Yehsir ihm nicht mehr böse war. Zeigte sich auch darin die Reife eines erwachsenen Mannes: die Dinge beim Namen zu nennen und nicht ewig beleidigt zu sein?
Als ihn Yehsir vor gut vier Wochen zum Mann ernannt hatte, teilten sich Unwohlsein und Stolz den Platz in Yonathans Brust. Später, während der Wüstenwanderung, gewann der Stolz darauf, ein Mann unter Männern zu sein, langsam die Oberhand. Heute jedoch hatte er einen schweren Rückschlag erlitten. Einfältig und töricht hatte er sich über die Warnungen des Schützenden Schattens hinweggesetzt. Wie gut, dass Yehsir nicht nachtragend war! Yonathan nahm sich vor, in Zukunft bereitwilliger auf die Ratschläge seiner älteren Freunde zu reagieren.
Mit Ausnahme von Yomi vielleicht. Der hatte Yonathan nämlich in seiner Unbekümmertheit geradezu einen Schlag in die Magengrube versetzt. Nicht buchstäblich, aber die Wirkung war die gleiche. Es begann, als die fünf bis auf die Haut durchnässten Wüstenwanderer auf dem Hügelkamm ihre Packpferde zur Weiterreise aneinander leinten. Yomi trat grinsend auf Yonathan zu. »Da hat Yehsir dir ja eben unheimlich den Kopf gewaschen, Yonathan!«
Der Angesprochene knurrte unfreundlich: »Schön, dass es wenigstens dir gefallen hat. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du strahlst wie ein Dreijähriger, der gerade seine Nase aus einem Honigtopf gezogen hat.« Er wandte sich ab und kümmerte sich wieder um die Lederriemen der Packpferde.
Doch Yomi ließ sich von einer humorlosen Bemerkung nicht die Laune verderben. »Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wie es dir geht, Yonathan. Wenn ich mich so unheimlich blöd benommen hätte wie du vorhin, dann wäre ich jetzt bestimmt auch ziemlich sauer auf mich selbst.«
Yonathan schluckte. »Vielen Dank, dass du so viel Verständnis für mich hast«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne seine Arbeit aus dem Auge zu lassen. »Gut zu wissen, dass man so einfühlsame Freunde hat, die einem in Zeiten der Not mit einem tröstlichen Wort zur Seite stehen.«
Yomi merkte jetzt wohl doch, dass Yonathans Interesse an einer gründlichen Erörterung der jüngsten Ereignisse sehr begrenzt war – zumindest im Moment. Er nickte noch einmal aufmunternd, klopfte seinem Kameraden auf die Schulter und mit den Worten »Niemand ist vollkommen, auch du nicht« ging er seiner Wege.
Jetzt, am Abend, bedauerte Yonathan seine bissige Reaktion auf Yomis Aufmunterungsversuch schon wieder. Seine Laune heute Mittag war nicht die beste gewesen und er war wohl etwas zu heftig geworden. Er wollte die Sache aus der Welt schaffen, noch ehe die Sonne hinterm Horizont verschwand. So ging er zu Yomi, der gerade die Packpferde entlud.
»Yo, es tut mir Leid, was ich heute, nach dem Durcheinander im Wadi, zu dir gesagt habe.« So, jetzt war es raus.
Yomi ließ das Gepäckstück, das
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