Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
zu ihm auf. »Männer«, sprach er. »Ihr wisst, warum ich euch habe antreten lassen. Ein Urteil soll vollstreckt werden.« Geschäftsmäßig zählte Sethur noch einmal sämtliche Vergehen auf. Yomi und Gimbar sollten sich mit den Säcken in ihren Armen ins Meer stürzen. Anschließend würde man die pflichtvergessenen Soldaten am Fockmast aufknüpfen; ihr Blick war inzwischen wieder klar, ein Spiegel ihrer Angst.
»Vollstreckt das Urteil!«, lauteten Sethurs abschließende Worte.
Absolute Stille herrschte auf dem Großdeck. Inzwischen war der ganze östliche Himmel in tiefes Violett getaucht. Auf den Gletschern des Südkamm-Gebirges sah man erste, orangerote Sonnenstrahlen, als wollten sie den Auftakt des tödlichen Schauspiels nicht versäumen. Selbst der Wind schien für einen Augenblick den Atem anzuhalten.
Und doch, dachte Yonathan, war der Geruch der Verwesung, den er schon vorher wahrgenommen hatte, stärker geworden. Er schloss die Augen. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Unzählige Pfeil-und Speerspitzen waren auf ihn gerichtet. Eine falsche Bewegung, ein leises Zucken mit der Hand, die Haschevet umklammerte, und alles war verloren.
Zwei Seemänner trugen eine Planke herbei – den hölzernen Pfad, über den Yomi und Gimbar in den Tod gehen sollten.
Hinter Yonathans fest zusammengepressten Augenlidern hüpften bunte Pünktchen auf und ab. Was sollte er tun? Was konnte er tun?
»Augen auf!«, herrschte ihn ein Soldat an und stieß ihn mit dem stumpfen Lanzenschaft in die Seite.
Yonathan riss die Augen auf und packte den Stab mit beiden Händen. Erschrocken sprang der Soldat zurück. Ich muss mich zusammennehmen!, dachte Yonathan. Er schaute zu seinen Freunden hinüber. Yomis traurige Augen bohrten sich wie zwei Dolche in sein Herz. Gimbar schaute verwegen und trotzig.
Yonathans Gedanken wirbelten durcheinander. Und wenn er nun einfach – wie damals, im Sturm, am Ewigen Wehr – einen Mast der Narga zum Bersten brächte? Oder vielleicht sollte er lieber seine beiden Freunde durch die Luft ans nahe gelegene Ufer fliegen lassen? Tränen der Verzweiflung standen in seinen Augen. Er richtete ein Stoßgebet an Yehwoh, er möge ihm helfen. Aber wie…?
Ein Schrei riss ihn in die Wirklichkeit zurück. »Da!«, brüllte einer der beiden Seeleute, die gerade die herbeigebrachte Planke am Rand des Decks befestigen wollten. »Der Weiße Fluch!«
Niemand hatte in der letzten halben Stunde aufs Meer hinausgeschaut. Jeder war gefesselt durch die Ereignisse an Deck. Doch die Nachricht vom Weißen Fluch hatte die Szene in einem einzigen Augenblick verwandelt. Alle starrten zur Luvseite hinaus und deuteten aufgeregt aufs Wasser.
Auch Yonathan sah es: Unbemerkt hatte der Wind von Südost auf Ost gedreht und trieb nun einen weißen Teppich direkt gegen die Backbordseite der Narga. Yonathan hatte schon vom Weißen Fluch gehört, doch kaum jemand hatte ihn jemals selbst gesehen. Wenn die Seemänner in ihren Spelunken zusammensaßen und tranken, wussten sie die schaurigsten Geschichten über den Weißen Fluch zu berichten. Ganze Schiffsflotten sollte er schon verschlungen haben! Navran hatte einmal lächelnd erzählt, dass der Weiße Fluch in Wahrheit eher harmlos sei. Meist schwamm er in kleineren Matten auf dem Wasser und der Ausguck musste schon schlafen, damit er einem Schiff ernsthaft gefährlich werden konnte. Tatsächlich, so Navran, sollte dieser Schrecken der Seefahrer aus unzähligen kleinen Lebewesen bestehen, die fast alles verschlangen, was auf der Wasseroberfläche schwamm: Pflanzen, tote Fische, Holz, gelegentlich sogar Menschen – sofern sich welche fanden. Ein Schiff, das ordentlich kalfatert war, verschmähte der Weiße Fluch. Doch welches Schiff hatte schon eine so vollkommene Außenhaut? Für den Weißen Fluch genügte schon eine kleine Schadstelle; er fraß sich durch die feinsten Poren in das Holz und konnte dann einen Schiffsrumpf von innen heraus auflösen.
Am Oberdeck der Narga herrschte inzwischen Panik! Männer kreischten unverständliche Dinge, rannten ziellos durcheinander oder weinten wie Kinder. Sethur und Kapitän Kirzath brüllten Kommandos, man solle die Anker lichten, die Segel setzen und die Narga auf den Strand zusteuern. Niemand beachtete sie. Wie schneeweißer Aussatz drängte derweil eine riesige Schaumzunge durch den Eingang der Bucht. Schnell dehnte sie sich aus, bereit, alles zu verschlingen, was ihr in die Quere kam.
Auf der Luvseite der Narga lag ein kleines
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