Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
ihrer Führer verurteilt wurde, war ich wirklich begeistert.«
Jonathan fühlte eine Wärme, die er einem Fremden gegenüber lange nicht mehr empfunden hatte. Die Bücher, das Gespräch, vielleicht auch die äußere Erscheinung dieses freundlichen, ruhigen Mannes hatten die Erinnerung an seinen Vater in ihm wachgerufen. »Erzählen Sie jedem so freimütig Ihre Geschichte?«, fragte er schließlich.
»Nein, nicht jedem. Aber ich fühle, dass ich es dir schuldig bin. Schließlich hast du mir mit diesen Büchern ja auch deine kostbarsten Schätze gezeigt. Ist es nicht so?«
»Doch, so ziemlich«, gab Jonathan zu und holte tief Luft. »Also wenn es an mir liegt«, verkündete er förmlich, »dann dürfen Sie bleiben, Mister William Marshall.«
Marshall lächelte. »Ich freue mich«, war seine ganze Antwort.
»Eine Frage noch, Mister Marshall.«
»Oh? Etwa noch eine Prüfung?«
Jonathan lachte. »Nein, nein, keine Angst. Die haben Sie bestanden. Aber Ihr Name, er erinnert mich an jemanden. Haben Sie nicht einen berühmten Namensvetter?«
»Es gab tatsächlich mal einen William Marshall, mit dem ich verwandt bin.«
»Hat er nicht viele schöne Musikstücke komponiert?«
»Richtig. Eigentlich war er Uhrmacher, aber sicher ein besserer Komponist.«
»Dann kenne ich ihn oder besser einige seiner Stücke. Eines davon heißt ›Miss Admiral Gordon’s Strathspey‹. Es ist ein lustiger Tanz. Zwar kann ich in meinem Rollstuhl nicht besonders gut tanzen, aber ich kann Ihnen das Stück auf meiner Flöte vorspielen. Möchten Sie es gerne hören?«
»Es wäre mir sogar eine besondere Freude, Jonathan.«
So griff Jonathan zu der Flöte, die er seit einem bestimmten Abend vor einigen Wochen fast ständig bei sich führte, und spielte die Melodie des lebhaften Tanzes.
Und während er spielte, wandelten seine Gedanken und diejenigen seines neuen Lehrers auf eigenen Pfaden, gewebt aus Erinnerungen, und waren doch vereint in einer neuen Gemeinschaft, die alle Voraussetzungen bot einmal eine enge Freundschaft zu werden.
William Marshall war längst wieder fort. Er wollte noch am selben Tag seinen Rückweg nach Dundee antreten, um so schnell wie möglich mit seinen Habseligkeiten zurückzukehren. Er und Lord Jabbok waren übereingekommen, dass er seinen Dienst sofort antreten könne. Marshalls Begeisterung für die neue Aufgabe ließ ihn die Einladung des Lords ausschlagen, wenigstens bis zum nächsten Morgen auf Jabbok House zu verbleiben. »Passt gut auf den Jungen auf, bis ich zurück bin. Er sieht etwas kränklich aus«, hatte er zum Abschied gesagt.
»Darauf können Sie sich verlassen, junger Mann«, war die Antwort Lord Jabboks. Da es zu den ehernen Grundsätzen des alten Lords gehörte, niemals den Eifer seiner Angestellten zu bremsen, entließ er den Lehrer mit heftigem Schulterklopfen, besten Wünschen und mit Peter, dem Chauffeur, der Marshall zum Bahnhof bringen sollte.
Nach dem Abendessen hatte sich Jonathan sogleich entschuldigt, er wolle vor dem Zubettgehen noch einmal in die Bibliothek, etwas nachschauen. Während seine Fingerspitzen über die Buchrücken im Regal wanderten, fiel sein Blick auf den am Boden liegenden Bücherstapel. Es waren acht Folianten, in braunes, fleckiges Leder gebunden, mit einer goldenen Jahreszahl zwischen den Bünden auf dem gewölbten Rücken. Aus dem untersten, der die Prägung A. D. 1707 trug, ragte eine vergilbte Seite hervor. Zwar handelte es sich bei den dicken Schinken nur um Geschäftsbücher, aber angesichts ihres ehrwürdigen Alters machte sich Jonathan doch Sorgen. Vielleicht hatte er beim Aussortieren ein Buch beschädigt. Er räumte die sieben oben liegenden Bände beiseite und beugte sich aus seinem Rollstuhl seitwärts zum untersten Buch herab. Mühsam hievte er den schweren, alten Wälzer auf den Schoß. Als er den Deckel öffnete und sein Blick die ersten Folios streifte, musste er sich zwingen schnell zu der vermeintlich beschädigten Seite vorzublättern. Das Hauptbuch stammte noch aus der Zeit, als die Jabboks auf Meggernie Castle residierten. In schön geschwungener Handschrift hatte einer seiner Vorfahren hier mit Federkiel fein säuberlich alle Einkäufe und Verkäufe eingetragen. Fässer mit eigens aus Frankreich eingeführtem Bordeaux-Wein waren hier ebenso vermerkt wie ein Zuchtwidder, der in die englischen Kolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent verkauft worden war. Beinahe in der Mitte des Buches fand Jonathan eine Seite, auf der der Monat April
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