Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Äußerungen über den Treueschwur der Jabboks gegenüber England waren nur eine Finte?«
»Sie dürfen mich ruhig Jonathan nennen, Mister Marshall. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Eine Finte war es nicht. Diesen Schwur gibt es wirklich, aber wie ich schon sagte, mein Großvater hat etwas dick aufgetragen, um festzustellen, ob Sie eine eigene Meinung haben und auch bereit sind diese zu vertreten.«
Mister Marshall blickte Jonathan eine Weile schweigend ins Gesicht. Dann bemerkte er mit entspanntem Lächeln: »Du scheinst mir ein bemerkenswerter Junge zu sein, Jonathan.«
So wie Sie ein bemerkenswerter Mann sind, dachte Jonathan. Er hätte gerne gewusst, wie alt der Lehrer wirklich war. Sein markantes Gesicht hatte einen dunklen Teint und wirkte auf eine schwer erklärbare Weise zeitlos. Jonathan wurde sich seines forschenden Blicks bewusst und entspannte sich. Achselzuckend entgegnete er: »Ich finde mich gar nicht so bemerkenswert.«
»Doch, das bist du bestimmt. Ich habe noch nie einen Jungen von – wie alt, sagte doch dein Großvater, bist du gerade geworden? – vierzehn Jahren erlebt, der so ernsthaft ist und sich so auszudrücken weiß wie du. Ich glaube, du könntest der Traumschüler eines jeden Lehrers werden.«
»Oder der Alptraumschüler«, sagte Jonathan lachend. »Fragen Sie lieber nicht meine bisherigen Lehrer. Die werden Ihnen wahre Schauermärchen über mich erzählen!«
»Du übertreibst bestimmt. Warum sollten sie nicht mit dir zufrieden sein?«
»Vielleicht, weil ich nicht alles so hinnehme, wie sie es mir auftischen.«
»Oh, oh, das klingt allerdings sehr aufwieglerisch, geradezu revolutionär!«, tadelte Marshall. Er strich sich eine grau durchwirkte Strähne seines ansonsten dichten schwarzen Haares aus dem Gesicht und lächelte.
Jonathan gefiel der Mann, der so wenig von den anderen Lehrern hatte, die er kannte – höchstens noch von Mister Cruickshank aus Portuairk, aber das war in einer anderen Zeit gewesen. Zugleich verwirrte ihn aber auch die Offenheit, die das ehrliche Gesicht des schlanken, hoch gewachsenen Mannes ausstrahlte. Oftmals traten Fremde ihm gegenüber, der ja im Rollstuhl saß, eher zurückhaltend und befangen auf. Nicht so Mister Marshall. Er zeigte ehrliches Interesse für Jonathan, mehr als das Engagement eines Lehrers für einen Schüler, der ihm den Broterwerb sicherte. Ja, je länger er das beinahe aristokratische Gesicht des Lehrers studierte, umso stärker glaubte er darin einen Ausdruck echter Anteilnahme zu entdecken, fast wie die eines älteren Bruders, der nach langer Abwesenheit endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war.
»Jonathan? Träumst du?«
Der Angesprochene blinzelte und erinnerte sich wieder des eigentlichen Gesprächsthemas. »Manchmal darf man sich nicht alles gefallen lassen«, sagte er; der Klang seiner eigenen Worte erschien ihm irgendwie fremd. Dann erzählte er von dem Zwischenfall mit Pastor Gerson.
»Bemerkenswert«, sinnierte Marshall, nachdem er Jonathans Bericht aufmerksam verfolgt hatte. Mit der Hand am Kinn grübelte er über etwas nach. »Woher weißt du all diese Dinge von Gott und über die Bibel?«
»Von meinem Vater. Und aus den Büchern. Sie gehören zu dem wenigen, das mir von ihm geblieben ist.«
»Darf ich die Bücher sehen?«
»Sicher«, freute sich Jonathan. »Sie stehen hier, direkt hinter mir. Früher hatte ich sie im Internat bei mir. Aber da ich jetzt fest bei meinem Großvater bleibe, habe ich sie mir von Samuel nachschicken lassen – Samuel Falter, er hat sich im Internat immer um mich gekümmert. Ich habe sie hier im dritten Regal einsortiert, erst heute Morgen. Da komme ich vom Rollstuhl aus gut dran.«
»Warum bewahrst du sie nicht in deinem Zimmer auf?«, fragte Marshall, während er sich von seinem Sessel erhob.
»Damit Großvater auch mal hineinschaut. Ich finde, das ist wichtig.« Jonathan lächelte listig.
Der Lehrer nickte und wandte sich dem guten Dutzend Bücher zu, indem er seine Hände auf die Knie stützte, um die Aufschriften auf den Buchrücken besser lesen zu können. Hier und da nahm er einen Band heraus und blätterte darin. Als er einen dunkelroten Leinenband mit goldenen Lettern aufschlug, lächelte er. »Ich kenne dieses Buch. Ich las es in Indien. Anfangs hatte es mich nur interessiert, weil die Vereinigten Staaten und Kanada den Besitz des Buches im letzten Kriegsjahr vorübergehend verboten hatten. Als ich dann las, wie darin die Heuchelei der großen Kirchen und vor allem
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