Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
aufsummiert und mit einem präzisen schrägen Strich abgeschlossen worden war. Die neue Seite stand für den 1. Mai 1707, und erst jetzt bemerkte er, dass das herausstehende Blatt nicht ausgerissen war, ja, nicht einmal aus dem Hauptbuch selbst stammte. Zwischen den aufgeschlagenen Seiten lag ein Pergament, das um vieles älter
sein musste als der gerade zweihundertsechzehn Jahre junge Foliant!
Das ungleichmäßig grau und ocker gefärbte Blatt war übersät mit Tausenden von feinen, dunkelbraunen Pünktchen, die daran erinnerten, dass Pergament aus der enthaarten, ungegerbten Haut von Tieren hergestellt wurde. Wahrscheinlich handelte es sich um sogenanntes Velin, eine besonders feine Art des Pergaments, das man aus der Haut gerade geborener Lämmer oder Kälber fertigte. An den Rändern war der Bogen teilweise eingerissen und wies bräunliche Flecken auf, aber sonst befand er sich noch in einem tadellosen Zustand.
Das rechteckige Blatt war in zwei Bereiche aufgeteilt. Im oberen Teil befand sich eine Zeichnung, unten hatte der Verfasser einen handschriftlichen Kommentar hinzugefügt.Über allem schwebte das Emblem einer weißen Rose; dieser Eindruck entstand vermutlich deshalb, weil nur bei der Gestaltung der Blume eine andere Farbe als diejenige der gewöhnlichen Tinte verwendet worden war. Aber Jonathan schenkte ihr keine weitere Aufmerksamkeit, da die Rose auch im Familienwappen der Jabboks auftauchte und ihm daher bestens vertraut war.
Mit eigenartigem Kribbeln im Nacken identifizierte er dagegen die bräunlich schwarzen Buchstaben als einen griechischen Text. Die Schafzucht hatte in Griechenland eine lange Tradition. Es war also immerhin möglich, dass einer seiner Vorfahren dort Zuchttiere eingekauft hatte – aber das Manuskript sah so alt aus! Konnte es sein, dass es noch aus der Zeit stammte, als Griechisch jedermanns Umgangssprache war? Konnte dieses Pergament wirklich zweitausend Jahre alt sein?
Ohne Frage war es lange vor der Zeit verfasst worden, als Königin Anna Stuart die Jabboks mit Land und Adelstitel belohnte und sie begannen eine eigene Schafzucht aufzubauen.
Ja, dieses Dokument musste sogar älter sein als jedes andere Buch in der Bibliothek seines Großvaters. Nicht dass irgendeine Jahreszahl Jonathans Ahnung bestätigte. Er war sich dessen gewiss, ein starkes Gefühl sagte ihm, dass es so sein musste, als er sich nun den Einzelheiten der Zeichnung zuwandte. Seine Umgebung wich aus seinem Bewusstsein, kein Geräusch drang mehr zu ihm und er sah die Bollwerke von Büchern nicht mehr, die sich rings um ihn türmten. Nur er und dieses geheimnisvolle alte Pergament waren noch da.
Die mit spitzer Feder gezeichnete Darstellung zeigte das Innere einer großen, breiten Halle mit einer Reihe mächtiger Säulen im Hintergrund. Der Saal war überfüllt mit einer jubelnden Menschenmenge. Ihre Gewänder von altertümlichem Schnitt verrieten, dass es sich um edle und wohl begüterte Personen handeln musste. Ihr Jubel galt ihrem Herrscher, der etwas erhöht auf einem Podest saß und wohlwollend lächelte. Die sparsame und gekonnte Strichführung zeigte den Regenten als einen sehr jungen Mann. Noch jünger jedoch schien derjenige, der rechts vom Thron stand, ein Jüngling mit schwarz gezeichneten Haaren, von dem man den Eindruck hatte, er fühle sich nicht recht wohl ob all der Aufmerksamkeit, die ihm von seiten des Herrschers und der jubelnden Menge zuteil wurde.
Das Bild übte eine eigenartige Wirkung auf Jonathan aus. Einen Moment lang war er wie betäubt. Was er da in den Händen hielt, war zweifelsohne ein Bildnis des Traumes, von dem sein Großvater vor einigen Wochen erzählt hatte. Jonathan erinnerte sich noch sehr genau an die Schilderung dieses Traumes. Sein Großvater hatte berichtet, ihn, Jonathan, gesehen zu haben, wie er auf eigenen Füßen in einer großen Halle stand, neben einem thronenden Herrscher, und von vielen kostbar gewandeten Leuten bejubelt wurde.
»Ich kann es mir nur so erklären, dass ich das Pergament schon irgendwann zuvor einmal gesehen und deshalb davon geträumt habe. Vielleicht war es auch gar kein Traum. Du weißt ja, wie das ist, Jonathan. Man träumt etwas und schon hat man es wieder vergessen. Später weiß man dann überhaupt nicht mehr, was Traum und was irgendeine verschwommene Erinnerung von etwas tatsächlich Erlebtem ist.«
Ich weiß gar nicht, wie das ist, dachte Jonathan. Im Gegenteil! Ich kann mich sehr genau an alles erinnern, was ich träume. Er sah
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