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Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Titel: Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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jedoch die Verwirrung im Gesicht seines Großvaters und behielt diese Gedanken für sich. »Kannst du dich wirklich nicht daran erinnern, ob du dieses Pergament schon einmal gesehen hast?«
    Der alte Lord Jabbok streckte ratlos die Hände von sich. »Nein. Das ist ja das Merkwürdige. Ich kenne das Bild, aber dieses Blatt kenne ich nicht. Warum sollte ich auch in ein Hauptbuch aus dem Jahre 1707 schauen. Ich bin froh, wenn die Bücher von diesem Jahr stimmen.«
    Jonathan dachte über etwas nach. »Kann ich das Blatt behalten, Großvater?«
    »Sicher, mein Junge. Du wirst ja sowieso einmal all das hier erben.« Er machte eine umfassende Geste. »Aber behandle es mit Sorgfalt. Es scheint sehr alt und vielleicht auch kostbar zu sein. Möglicherweise kann es dir noch einmal von großem Nutzen sein.«
    »Das ist Koine«, stellte William Marshall fest, nachdem er das Pergament geprüft hatte.
    »Ich dachte, es ist Griechisch«, staunte Jonathan. Er hatte es kaum abwarten können, dem Lehrer, gleich nach dessen Ankunft auf Jabbok House, das alte Schriftstück zu zeigen.
    Marshall lächelte. »Also gut«, meinte er. »Dann können wir ja gleich mit unserer ersten Lektion beginnen, Jonathan. Koine ist Griechisch. So nennt man nämlich die Form der griechischen Sprache, die etwa von 300 vor Christus bis 500 nach Christus gesprochen wurde. Zur Zeit Christi war das Koine als Umgangssprache allgemein üblich. Das Neue Testament wurde zum Beispiel überwiegend in Koine verfasst.«
    »Nur dass es Koine heißt, das war mir jetzt neu. Können Sie schätzen, wie alt dieser Text ist?«
    »Er muss schon sehr alt sein. Schau hier.« Er zeigte auf die zusammenhängenden Textzeilen. »Diese einzelnen Großbuchstaben – man nennt sie auch Majuskeln – stehen deutlich voneinander abgesetzt nebeneinander, aber es sind keine Wortzwischenräume zu sehen. Es fehlen auch jegliche Satz- oder Betonungszeichen. Diese Schreibweise hat man bis zum sechsten Jahrhundert nach Christus gepflegt.«
    »Das heißt, dieses Blatt ist mindestens…« – Jonathan drehte kurz die Augen zur Decke und rechnete – »… tausenddreihundert Jahre alt?«
    »Mindestens. Wenn man den Text betrachtet, wahrscheinlich sogar noch älter.«
    »Sie meinen, Sie können den Text lesen?«
    Marshall nickte. »Ich habe mich mit Altgriechisch beschäftigt, lange bevor ich Lehrer wurde. Mal sehen, ob ich noch damit zurechtkomme. Wenn du dich einen Augenblick gedulden könntest…«
    Der Lehrer eilte aus der Bibliothek und kam kurze Zeit später mit einem dicken, in Leder gebundenen Wörterbuch zurück. Erzückte einen Bleistift und begann die Übersetzung der Handschrift Zeile für Zeile auf ein Blatt Papier zu übertragen. Bisweilen kratzte er sich mit dem Stift am Kopf, dann wieder griff er eilig zum Wörterbuch. Wenn er die Bedeutung einerWendung erkannte, kritzelte er hastig die Übersetzung auf das Papier. Schließlich blickte er zu Jonathan auf, Zufriedenheit im Blick, aber auch eine gewisse Ratlosigkeit.
    »Was ist?«, brach Jonathan das Schweigen, das im Zimmer geherrscht hatte. »Haben Sie’s?«
    »Die Worte habe ich wohl, aber der Sinn ist mir noch nicht ganz klar. Es klingt wie ein Gedicht, und gleichzeitig auch wie eine Prophezeiung.«
    »Dann lesen Sie es doch mal vor«, drängte Jonathan ungeduldig.
    Statt selbst zu lesen, schob Marshall seinem Schüler den Zettel über den Tisch. Jonathan vertiefte sich in den Text.
     
    Trauer wird die überfallen, die geboren haben,
    Weil ihre Leibesfrucht verloren ging.
    Und zwei sind es, die weinen,
    Um diejenigen, die einst an ihren Brüsten gesogen.
    Doch siehe, sie werden Trost finden.
    Der Höchste wird ihrer Tränen gedenken.
    Die eine wird jubeln,
    Denn der Sohn, der von ihr ging, kehrt als ihr Vater zurück.
    Und alle Söhne des Höchsten werden um seinetwillen frohlocken.
    Die andere wird aufgerichtet werden,
    Denn ihr männlicher Nachkomme wird sich als ihr Bruder erweisen.
    Und das Gericht des Höchsten wird von ihrem Munde ausgehen.
    Der ihren Schoß öffnete, wird all ihre Werke vollenden,
    Sodass die Edlen und die Geringen vor ihm ihr Knie beugen.
    Und doch geht sein Hang nicht nach Ehre und Königtum.
    Um Gerechtigkeit zu üben, zieht er aus.
    Auf dass er die Welt, die in Tränen liegt, tauft.
    Sie untertaucht in ewigem Vergessen.
    Und emporhebt in immer währendem Trost.
     
    Jonathan las die Worte einmal, ein zweites und noch ein drittes Mal. Er fühlte die Bedeutung, die in den Worten schlummerte, aber ihr

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