Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Sinn erschloss sich ihm nicht. »Es klingt fast wie ein Psalm aus der Bibel«, meinte er schließlich. »Aber ich kenne keinen solchen Psalm.«
Marshall nickte. »Mir geht es ähnlich. Hier wird offensichtlich von zwei Frauen gesprochen, die ihre Söhne verloren haben. Sie trauern, aber sie werden getröstet, weil sie sie wiederbekommen. Nur das Wie ist mir nicht klar. ›Der Sohn, der von ihr ging, kehrt als ihr Vater zurück.‹ Ich glaube nicht, dass der Schreiber damit ausdrücken wollte, der Sohn dieser Frau hätte seine eigene Großmutter geheiratet.«
»Maria!«, rief Jonathan wie ein Blitz aus heiterem Himmel. »Natürlich. Es gibt einen Psalm, wo es heißt: ›Anstatt deiner Väter werden deine Kinder sein.‹« William Marshall nickte. »Psalm 45, wenn ich mich recht erinnere. Aber ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
»Ich habe einmal gelesen, dass sich diese Stelle auf Jesus Christus bezieht. Als Mensch auf der Erde stammte Jesus von König David ab. Er hatte also viele Vorfahren oder ›Väter‹, wie der Psalm andeutet. Später, lange nach seiner Himmelfahrt, sollte er aber als König im Himmel regieren. In Jesaja 9,6 wird Jesus auch als ›Ewigvater‹ bezeichnet, deshalb, weil unter seiner Herrschaft die Toten wieder zum Leben kommen würden. Er würde sie auferwecken, selbst jene, die früher auf der Erde seine Vorväter waren – Abraham, Isaak, Jakob, David und so weiter. Dadurch würde er eben der Vater seiner eigenen Vorväter werden – natürlich auch der Vater seiner eigenen irdischen Mutter, Maria.«
»Du scheinst jedenfalls die Bibel und die Bücher deines Vaters gründlich studiert zu haben«, staunte Marshall. »Aber du hast Recht. Diese Erklärung könnte gut auf die erste der beiden Frauen aus dieser Handschrift passen. Gleich danach heißt es ja auch: ›Und alle Söhne des Höchsten werden um seinetwillen frohlocken.‹ Das passt sehr gut zu dem, was die Bibel über die Geburt Jesu berichtet. Ein Engel besuchte die Hirten auf dem Felde und plötzlich war bei ihm eine ganze Menge himmlischer Heerscharen, die Gott mit den Worten pries: ›Herrlichkeit Gott in den Höhen und auf der Erde Frieden, allen Menschen guten Willens.‹«
Jonathan nickte. »Aber wenn diese erste Frau, von der das Pergament spricht, Maria ist, wer ist dann die zweite? ›Ihr männlicher Nachkomme wird sich als ihr Bruder erweisen‹, sagt die Handschrift. Wie kann das gemeint sein?«
Marshall kratzte sich mit dem Bleistift am Hinterkopf. »Eine Frau, die von ihrem eigenen Vater einen Sohn empfängt, wäre die Schwester ihres Kindes. Aber ich glaube, dass auch im Fall dieser zweiten Frau etwas anderes gemeint ist. Sonst wäre es Blutschande – seit alters her eine der schlimmsten Sünden! Überlegen wir doch mal: Das Wort Bruder wird ja oft auch in übertragenem Sinne angewandt. Aus der Bibel geht zum Beispiel hervor, dass sich die Christen, die sich im Glauben verbunden fühlten, untereinander mit ›Bruder‹ und ›Schwester‹ ansprachen. Der Sohn dieser zweiten Frau könnte also mit seiner Mutter in der gleichen Gesinnung vereint, sozusagen verbrüdert gewesen sein.«
»Oder in der gleichen Aufgabe«, fügte Jonathan hinzu. »Man spricht ja auch von Waffenbrüdern.«
»Richtig. Wobei beides eng miteinander verwandt ist. Waffenbrüder kämpfen für dieselbe Sache und sind bereit, dafür ihr Leben zu lassen.«
»In der Handschrift steht allerdings nichts von Kämpfen.«
»Immerhin heißt es hier: ›Um Gerechtigkeit zu üben, zieht er aus.‹ Man sagt ja auch, jemand zieht aus, um Krieg zu führen.«
Jonathan hatte das Gefühl, dem Geheimnis dieser alten Worte dicht auf den Fersen zu sein. Doch es entzog sich ihm immer wieder. »Jemand, der auszieht, um zum Beispiel ein begangenes Unrecht wieder gutzumachen, könnte aber auch damit gemeint sein, oder?«
William Marshall legte den Kopf schräg. »Sicher.«
Wenn es Jonathan möglich gewesen wäre, hätte er seinen Rollstuhl verlassen, um wie ein Detektiv, der der Aufklärung eines Falls ganz nahe war, grübelnd und laut kombinierend im Zimmer auf und ab zu laufen. »Das hieße also, dass dieser Jemand, der ›die Welt, die in Tränen liegt‹ – wie war das doch gleich? – ›emporhebt in immer währendem Trost‹, dass dieser eine der Sohn der zweiten Frau war. Richtig?«
Marshall nickte zustimmend.
»Wenn ich daran denke, dass mich mein Großvater auch oft ›mein Sohn‹ nennt, dann könnte es sich hier aber auch um einen weiter
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