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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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unabdingbar
war, dass sie regelmäßig ihre Tabletten nahm, wenn sie ihre psychische Stabilität
behalten wollte.
    »Sie
wird Ihnen vielleicht gefühlsmäßig ein wenig abgestumpft erscheinen«, erklärte
er mir unter vier Augen. »Aber sie hat die letzten Monate bereits die gleiche
Dosis bekommen, und inzwischen haben Sie sicher genug Zeit gehabt, sich daran
zu gewöhnen, oder?«
    »Das
stimmt«, bestätigte ich. »Ich habe genug Zeit gehabt.«
    »Es
ist möglich, dass wir die Dosis in den nächsten Monaten nach und nach
reduzieren können, aber das darf auf keinen Fall ohne ärztliche Anweisung
passieren. Das muss in
Zusammenarbeit mit mir oder einem anderen Arzt geschehen.«
    Ich
erklärte, dass mir das klar sei.
    »Es
wäre gut, wenn Sie etwas drauf achten könnten«, fügte er hinzu. »Aber das
versteht sich ja von selbst?«
    »Natürlich.«
    »Und
es steht Ihnen frei, Kontakt mit mir aufzunehmen, sobald etwas passiert. Was
immer das auch sein mag.«
    Ich
sicherte ihm zu, dass ich damit einverstanden sei, und dann schüttelte er meine
Hand und wünschte mir viel Glück.
    Im
Juli, ein paar Wochen, bevor wir uns ins Flugzeug nach New York setzten, waren
wir noch einmal in Kontakt mit ihm. Er schrieb Rezepte über eine ansehnliche
Menge der Medikamente für Winnie aus, und nachdem er mich erneut ein wenig zur
Seite genommen hatte, bat er mich ausdrücklich, ihn über die Entwicklung auf
dem Laufenden zu halten.
    »Und
wenn es keine Entwicklung gibt?«, fragte ich.
    »Die
gibt es immer«, versicherte er mir. »Entweder in die eine oder in die andere
Richtung.«
    Ich
weiß nicht, warum er nicht auf meine Mail antwortet, es sind jetzt drei Tage
vergangen, seit ich sie losgeschickt habe, aber vielleicht sitzt er ja irgendwo
in einer Konferenz fest. Auf jeden Fall sehe ich, dass Winnie die beiden
Tablettenröhrchen mitgenommen hat, die sie angefangen hatte. Außerdem noch
jeweils zwei Extrapackungen; es gibt Zeichen dafür, dass sie einen Plan
gemacht hat und für längere Zeit nicht zurückkommen will. Ein großer Teil ihrer
Kleidung ist auch weg, genau wie die rote Reisetasche, ja, ich muss mich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass sie wirklich
weggegangen ist.
    Worte
- Schweigen.
    Licht
- Dunkelheit.
    Anwesenheit,
Präsenz - Abwesenheit?
    Verdammter
Scheiß, denke ich dann. Ich sehe gar nicht ein, mich daran zu gewöhnen.
     
    Über
das mit dem Schweigen grübele ich, während ich abends in der Noodle Bar sitze und ein pad thai
esse.
    Agnes,
meine erste Gattin, war eine Frau, die viel geredet hat - mehr oder weniger
kontinuierlich. Winnie war nie eine Freundin vom Reden um des Redens willen.
Was sich während ihrer Krankheitsperiode nach Sarahs Verschwinden noch verstärkte,
und auch nachdem sie Rozenhejm verlassen durfte, hat es Tage gegeben, an denen
wir fast kein Wort miteinander gewechselt haben. Ich habe das nie als
besonders anstrengend empfunden, ich weiß, es gibt Menschen, die haben
Probleme, mit ihrem Schweigen umzugehen - von der üblichen falschen Vorstellung
geleitet, dass ein schweigsamer Mensch gleichzusetzen ist mit einem
unglücklichen Menschen oder sogar mit einem anklagenden -, aber schon von
Anfang an war das wortlose Zusammensein ein natürlicher Bestandteil unserer
Beziehung.
    Und
ich habe die Dinge, über die sie trotz allem sprechen wollte, immer sehr
bewusst mit großem Ernst betrachtet. Eigentlich wünsche ich erst jetzt, es
hätte mehr Worte zwischen uns gegeben, nach diesen Wochen in dieser
theatralischen Stadt, in der sich alle im Großen und Ganzen immer zu allem
äußern.
    Denn
es stimmt ja schon, dass Schweigen nicht nur ein gemeinsames Einverständnis
bedeuten, sondern auch etwas anderes beinhalten kann. Den Gegensatz davon
beispielsweise, und wenn es vom einen ins andere übergeht, handelt es sich
wahrscheinlich um eine äußerst diskrete Grenzüberschreitung, die man erst
entdeckt, wenn es zu spät ist und man sich bereits in Feindesland befindet.
    Sarah
war in dieser Beziehung nicht die Tochter ihrer Mutter; wieder spreche ich in
der Vergangenheit von ihr, aber - noch einmal - alles, was Sarah betrifft,
geschah ja im Vergangenen. Dort und nur dort.
    Auf
jeden Fall redete sie gern, sowohl mit sich selbst als auch mit anderen. Auf
diese charmante Art und Weise, von der ich weiß, dass viele Kinder eines
gewissen Alters sie pflegen, gab sie ununterbrochen Kommentare ab zu allem, was
um sie herum und tief in ihr drin vor sich ging; wenn sie noch am Leben sein
sollte, bin ich überzeugt

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