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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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davon, dass sie eines dieser Mädchen werden wird, die
eifrig Tagebuch schreiben und alles in Worte fassen, einfach aus dem Bedürfnis
heraus, sich im Leben und in der Welt zu orientieren.
    Ich
weiß noch, dass ich selbst, als ich anfing zu schreiben, es unter ganz
ähnlichen Voraussetzungen tat. Inzwischen hat sich die Lage geändert, und
während ich hier sitze und mit den rot lackierten Essstäbchen in meinen
Reisnudeln herumstochere, kann ich Hertha Baussmanns neunmalkluge Kommentare
über mich als hoffnungslosen Fall fast wie einen Fluch hören. Ich erinnere
mich auch an eine Sache, die Winnie einmal sagte:
    »All
die Gedanken, all die Worte, die wir von uns geben, die gehören uns dann nicht
mehr. Nur das Unausgesprochene tragen wir in uns. Es ist das Ungeborene, das
wirklich zählt in unserer Existenz.«
    Ich
bitte mit einer einfachen Handbewegung um die Rechnung und gehe heim zu meiner
Einsamkeit.
     
    Meine
Einsamkeit ist an diesem Abend ein unzuverlässiger Kamerad. Nach zwei Gläsern
Wein wollen wir nichts mehr voneinander wissen. Um Viertel nach neun setze ich
mich in der Vierten Straße in einen Fernzug. Auf gut Glück steige ich bei 42a
am Bryant Park
aus. Gehe Richtung Times Square, wo mich Menschengewimmel, Neon und
aufdringliches Getöse erwarten. Ich habe keine weiteren Pläne, möchte nur
unter Menschen sein. Ich trinke zwei Bier und zwei Whisky in einer Bar neben
dem Eugene-O'Neill-Theater, während ich mich mit einem betrunkenen Japaner
unterhalte. Er gibt mir die Adresse seines Hotels auf der 54. und verspricht
mir, dafür zu sorgen, dass wir zwei interessante Damen zur Gesellschaft haben,
wenn ich in einer Stunde auf sein Zimmer komme. Als ich ihn verlasse und wieder
auf die Straße trete, ist es Viertel vor elf, es ist so voll auf dem
Bürgersteig, dass ich die Ellbogen benutzen muss, um vorwärts zu kommen, ich nehme an, dass ein paar Musicals
gerade zu Ende gegangen sind. Auch das ist eines von New Yorks vielen
Gesichtern, denke ich, eines der traurigeren.
    Trotzdem
will ich nicht nach Hause gehen. Wende mich nach Osten, die 44. Straße hinauf,
und als ich das Algonquin entdecke,
scheint mir das der rechte Ort in New York zu sein, wo ein gehetzter
Schriftsteller sich zu Hause fühlen kann. Hier saß Dorothy Parker, hier betrank sich Faulkner, bevor er anfing zu schreiben; ich höre selbst, dass diese
pathetischen, faden Argumente leichter als Luft sind, durchscheinender als das
Neon am Times Square, aber ich habe schon zu viel getrunken, um nicht offen zu
sein für pathetische, fade Argumente. Tender is
the night, denke ich.
    Ich
komme an der legendären Katze vorbei, das muss natürlich inzwischen eine andere sein, finde einen Tisch
ganz hinten in der Lobby und bekomme bald Gesellschaft von einem holländischen
Paar mit roten Haaren und großem Busen. Er ist das mit dem Haar, sie die mit dem
Busen. Er ist Literaturhistoriker, was sonst, und erst vor kurzem in die Stadt
gekommen, um ein Jahr lang Niederländische Literatur auf der Columbia zu unterrichten,
wir trinken Cocktails, viele phantasievolle, und erst als die beiden berichten,
dass sie zwei Töchter haben, die in drei Tagen mit den rothaarigen Großeltern -
väterlicherseits! - eintreffen, um in ihre Wohnung in Upper West,
zweiunddreißig Stockwerke über dem Park, zu ziehen, ermüden meine Lebensgeister
langsam.
    Nach
hartnäckiger Aufforderung leiste ich ihnen dennoch für einen Absacker
Gesellschaft im Roosevelt Hotel,
und als ich schließlich auf der 5th Avenue stehe und nach einem Taxi winke, ist
es nach ein Uhr, und ich wünsche mir nicht nur, dass ich mich irgendwo anders
in einer anderen Zeit befände - auf Poes potter's
field beispielsweise, warum nicht? -, sondern auch,
dass ich meine Identität mit der einer all dieser Marionetten tauschen könnte,
die ebenfalls winkend vor dem Hoteleingang stehen.
    Doch
das gelingt mir nicht, weder das eine noch das andere, ich gehe zu Fuß ganz bis
zur Carmine Street,
irre eine Weile in Chelsea herum
und versuche die White Horse Tavern zu
finden, dieses Pub, in dem Dylan Thomas
sich 1953 zu Tode gesoffen hat, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo es genau
liegt, und das ist wahrscheinlich nur gut so. Wenn der Abend auch sonst zu
nichts gut war, dann hat er mich zumindest total erschöpft. Ich falle so
ziemlich im selben Moment in den Schlaf, als ich mir in unserer traurigen,
ungeputzten Dachwohnung die Schuhe abstreife. Ob später Träume auftauchen, kann
ich nicht

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