Nesser, Hakan
Es ist
natürlich möglich, dass Sarah noch am Leben ist, aber wie gesagt, es sind
bereits anderthalb Jahre vergangen und...«
»Wie
ist es passiert?«, unterbricht Barbara Kripnik mich, ihre Augen flackern
unruhig hinter den Brillengläsern.
»Sie
wurde von einem Mann in einem Auto entführt«, sage ich. »Direkt vor unserem
Haus. Die Polizei hat keinerlei Spuren gefunden.«
»Entführt
von einem Mann?«
»Ja.«
Sie
zögert einige Sekunden, bevor sie die nächste Frage stellt.
»Wie
ist Winnifred damit fertig geworden?«
»Schlecht«,
sage ich. »Sie ist schlecht damit fertig geworden. Hat ein halbes Jahr in einer
psychiatrischen Klinik verbracht.«
Ich
bin selbst verwundert über meine Offenheit; ich erspare ihnen fast nichts,
überspringe aber zumindest den Selbstmordversuch. Fingal und Barbara Kripnik
tauschen Blicke, und ich sehe, dass es schwer für sie ist. Ich weiß ja nicht,
was sie sich vorgestellt haben, wie der Besuch bei einer entfernten Verwandten
wohl ablaufen sollte, aber so garantiert nicht.
»Bitte
schön«, sage ich und schenke Kaffee in die eierschalenfarbenen Becher, die
Winnie bei Ochre in der Broome Street
gekauft hat. »Aber jetzt geht es ihr gut, es ist nur ärgerlich, dass ihr
ausgerechnet heute kommt, wo sie nicht zu Hause ist. Wie lange bleibt ihr in
der Stadt?«
»Wir
fliegen heute Abend nach Montana zurück«, erklärt Fingal Kripnik und bricht
sich ein Stück von einem Scone ab. »Nach Billings, da steht unser Auto.«
»Zwei
Kinder zu verlieren«, sagt Barbara nach einer Weile des Schweigens. »Mein Gott,
wie kommt sie damit zurecht? Ich habe sie zwar noch nie gesehen, aber
trotzdem... das muss doch ein unerträgliches Leid bedeuten.«
Ich
sage nichts. Die Kripniks kauen eine Weile auf ihren Scones herum und schauen zu Boden.
»Es
ist doch nicht...?«, fragt Barbara dann. »Es kann doch nicht sein, dass...?«
«Was?«,
frage ich, als ich merke, dass sie die Worte nicht findet.
»Nein«,
sagt Barbara Kripnik. »Das ist nicht möglich. Ich habe nur gedacht...«
Ich
verstehe nicht, worauf sie hinauswill, und frage stattdessen, ob Winnies
Mutter und sie sich sehr nahe standen.
»Das
kann man wohl sagen«, antwortet Barbara mit neuem Enthusiasmus. »Als Kinder
waren wir fast wie Schwestern. Ich war Einzelkind, sie hatte einen Bruder, der
zehn Jahre älter war. Wir waren eigentlich jeden Tag zusammen, wir wohnten im
selben Viertel und waren gleich alt. Dann bin ich in die USA gezogen, als ich
gut zwanzig war, und danach konnten wir uns natürlich nicht mehr sehen. Aber
wir haben uns häufig geschrieben, bis zu ihrem Tod. Das war in dem Jahr nach
der Sache mit Judith, ja, es war eine schreckliche Geschichte. Ich begreife
nicht, wie Ursula das hat überstehen können.«
»Ursula?«,
frage ich.
»Entschuldige.
Ich bin es so gewohnt, als Ursula an sie zu denken.«
»Ihre
Mutter?«
»Wie
bitte?«
»Du
sagst also, Winnies Mutter heißt Ursula? Ich dachte, sie hieß Dagmar.«
»Sie
hieß auch Dagmar«, bestätigt Barbara Kripnik. »Winnifred ist diejenige, die
Ursula hieß.«
Plötzlich
sehe ich vor meinem inneren Auge die Schlange, die sich über den Wendeplatz in
Haughtaling Hollow schlängelt. Ich begreife nicht, was die hier zu suchen hat,
bin aber dennoch nicht besonders überrascht.
»Jetzt
verstehe ich nicht ganz«, muss ich einräumen.
Barbara
Kripnik wirft ein unruhiges Quallenauge auf ihren Mann und wirkt, als würde sie
mit sich selbst zu Rate gehen.
»Du
weißt doch wohl, was passiert ist?«, fragt sie vorsichtig.
»Ich...«
»Wie
es dazu gekommen ist, dass Judith starb?«
»Aber
natürlich«, antworte ich. »Judith und ihr Vater sind bei einem Autounfall
außerhalb von Berlin ums Leben gekommen.«
Barbara
Kripnik seufzt schwer und faltet die Hände. Ihr Ehemann stellt seinen
Kaffeebecher auf den Tisch und sieht aus, als würde er am liebsten durchs
Fenster hinausfliegen. Oder anfangen zu weinen.
»Nein«,
sagt Barbara schließlich. »So ist es nicht gewesen. Ursula Fischer hat ihre
Tochter nicht durch einen Autounfall verloren.«
»Ursula
Fischer?«, frage ich.
»So
hieß sie damals«, sagt Barbara Kripnik. »Sie war ja später gezwungen, ihren
Namen zu ändern. Ursula Winnifred Fischer.«
»Ich...
ich glaube, da muss irgendwie ein Missverständnis vorliegen.«
»Ja«,
nickt Barbara mit einem weiteren Seufzer. »Das scheint so. Offenbar bist du
über die ganze Sache nicht richtig informiert worden.«
Darauf
sage ich nichts. Spüre erneut diesen
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