Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
»S-terben« durchaus nicht eine so lustige Sache war.
Klein-Ursel dagegen, die noch immer geringe Temperatursteigerungen hatte, zeichnete sich durch grenzenlose Ungezogenheit aus. Sie war so grantig und nichtsnutzig, daß man das liebenswürdige Kind gar nicht wiedererkannte. Annemarie mußte alles mögliche ersinnen, um sie zu beschäftigen und gnädiger zu stimmen. Ja, es war ein bitterschwerer Winter für die arme Annemarie. Rudolf war ihr rührend zur Seite. Er schleppte ihr alles heran und legte selbst mit Hand an, soviel es ihm seine Praxis erlaubte. Und vor allem trug er die schwere Sorge um Vronli mit ihr gemeinsam, sprach ihr Mut und Zuversicht zu und richtete sie liebevoll immer wieder auf, wenn sie verzagen wollte, weil das Fieber erschreckend in die Höhe stieg. Ein bitterkalter Tag war es. Zu gleicher Zeit klingelten das Telefon und die Haustürglocke. Klein-Ursel weinte, weil Mutti noch keinen »Scholodschen Datten« mit ihr gebaut hatte. Vronli mußte eine neue Packung bekommen. Annemarie wußte nicht, wo sie zuerst hinlaufen sollte. Es war einer von den Augenblicken im Leben, in denen einem zumute ist wie einem Ertrinkenden, der in einen Wasserstrudel geraten ist.
Rasch zum Telefon - vielleicht eine eilige Bestellung für Rudi: »Hier Doktor Hartenstein ... wer ist da? Verachen, du? Warte eine Sekunde, mein Herz. Ich muß bloß die Tür öffnen. Es klingelt wie verrückt. Gleich bin ich wieder da.« Annemarie eilte zur Eingangstür. Ach, Vera ahnte nicht, wie gehetzt sie war, die saß an ihrem Schreibtischtelefon und hatte Zeit, sich gemütlich zu unterhalten. Sollte lieber herkommen und ihr helfen, anstatt sie aufzuhalten. Überhaupt die Freundinnen! Fünf Kränzchenschwestern, und keine kümmerte sich um sie. Keine wagte sich nach Lichterfelde in das Grippelazarett hinaus. Allenfalls erkundigten sie sich am Telefon, wie es ginge, und störten sie in ihrer knappen Zeit. Solche bitteren Gedanken kamen Annemarie, während sie der wie besessen läutenden Türschelle endlich Folge leistete. Draußen stand mit schwarzer Pelzkappe und kältegeröteten Wangen Ilse Hermann. »Menschenskind, ihr sitzt wohl auf den Ohren? Ich habe mir schon Gedanken gemacht, ihr seid alle miteinander bereits im Jenseits. Gott sei Dank, daß du mir wenigstens noch grippeheil entgegenkommst. Und Vronli? Geht es noch immer nicht besser? Sorg dich nur nicht so arg, Annemarie. Kinder fiebern leicht hoch.«
Ilse erschien Annemarie wie der Rettungsring, der dem Ertrinkenden zugeworfen wird. »Wagst du dich wirklich hier hinein in unsere Isolierbaracke, Ilse?« gab Annemarie dennoch pflichtgemäß zu bedenken.
»Leibhaftig. Solange ich in der Schule zu unterrichten hatte, fühlte ich die Verpflichtung, mich jeder Ansteckung fernzuhalten. Aber seit heute sind Grippeferien. Es fehlen zu viele Schülerinnen und Lehrkräfte. Und da haben mich keine zehn Pferde länger zurückhalten können. Ich mußte nach euch sehen und ob ich dir in deiner Not zur Seite sein kann.«
»Ach, Ilslein, du bist wirklich der Retter in der Not und zeigst mir, daß es doch noch wahre Freundschaft gibt. Und daß du dich von deinem Kusinchen getrennt hast ...« »Marlenchen wollte natürlich mit nach Lichterfelde. Aber ich fand es richtiger, uns nach und nach in die Höhle des Löwen zu begeben. Es genügt, wenn erst eine von der Grippe gefressen wird, nicht gleich beide auf einmal. Dann hast du wenigstens immer noch Ersatz an der andern.«
Annemarie lachte hell und befreit auf. Alles Schwere, was ihr die Brust mit ungewohntem Druck einengte, schwand für einen Augenblick vor der munteren, leichten Art der Freundin.
»Also dann an die Gewehre, Ilse! Da hast du eine Schürze. Du kannst die beiden Kleinen mit Grießbrei füttern. Ich mache inzwischen Vronli eine Packung. Und dann muß ich Rudis Reich erst wieder zur Sprechstunde herrichten. Ums Mittagbrot müssen wir uns auch demnächst kümmern. Keine Ahnung, was ich kochen soll.« »Hast du noch nicht vorgesorgt, Annemie? Na, wie wär's ,wenn wir deinen lieben Mann mit seinem Nationalessen, mit echten Schwäbischen Spätzli überraschen? Frau Kirchmäuser hat uns im Dreimädelhaus damals doch mehr als eine Lektion darin erteilt.«
»Ach, Ilse, willst du dir wirklich soviel Arbeit machen? Das heißt, dem Rudi würd' ich' sgönnen, daß er mal was Besseres in den Magen bekommt. Die letzten Tage mußte er immer abwechselnd Reis und Eintopf futtern, was schnell geht.« Ilse Hermann wurde wirklich der Retter
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