Nesthäkchen 07 - Nesthäkchen und ihre Küken
Tod beschäftigte die Kinder noch tagelang. Vronli wollte durchaus mit zum Friedhof und ihr rosa Mullkleid dazu anziehen. »Denn wenn sie nachher in den Himmel reist, muß man sich fein machen. Die Engelchen sind auch alle fein.«
Vorläufig aber war es noch Winter, bitterkalter Winter. Um das verschneite Haus in Lichterfelde pfiff der Ostwind. Herr Pfefferkorn ließ sich nicht mehr bei Hartensteins sehen, wo er pünktlich einen Abend in der Woche zuzubringen pflegte. Rudolf und Annemarie mußten ihn jetzt besuchen. Der alte Herr lag an einer Lungenentzündung darnieder. Annemarie konnte jetzt die Gastfreundschaft, die er ihnen damals gewährt hatte, durch nachbarliche Freundschaft und Beistand in der Pflege gutmachen. Auch Hansi bewies seine Freundschaft. Eines Tages, da Annemarie ihn beim Schneemannbauen im Garten glaubte, erschien er drüben bei Herrn Pfefferkorn. »Nanu, was haste denn hier zu suchen? Jeh man wieder bei deine Mamma.« Sehr einladend klangen Frau Lübkes Worte nicht.
Aber Hansi war nicht empfindlich. »Iß fill Ontel Bubumann Tätatur messen, danz desund messen.« Er hielt das alte Thermometeretui kampfbereit wie einen Dolch in der Rechten. »Die ßöne Horche hat iß auch mitdebringt.« Aber weder die schöne Horche noch das Thermometer nutzten Hansi etwas. Frau Lübke stand wie ein Drache vor dem Eingang und ließ den enttäuschten Hansi nicht zum Onkel Bubumann. »Nu, nu jeh doch bloß schon, ich hab' keine Zeit nich vor deine Dummheiten«, knurrte sie ihn ähnlich wie ein Höllenhund an.
»Biste die Hetze aus Hänsel und Dretel?« erkundigte sich Hansi erstaunt, der gewöhnt war, daß man stets freundlich mit ihm sprach.
Zum Glück verstand Frau Lübke den schmeichelhaften Vergleich nicht mehr. Die hatte bereits die Tür zugemacht. Der kleine Doktor mußte unverrichteterdinge abziehen und seinem Vater die Alleinbehandlung überlassen.
Auch Flochen hatte sich erkältet und lag nun mit brennendem Kopf im Bett. Die Grippe, die Annemarie bereits aus ihren Mädchentagen zur Genüge kannte, herrschte in diesem Winter ganz besonders stark. Die Kinder legten sich eins nach dem andern. Die arme Annemarie opferte sich auf bei der Pflege. Tag und Nacht war sie auf den Füßen. Und dabei mußte sie den ganzen Haushalt allein besorgen, die Heizung, das Kochen, und fortwährend rief eins der Kinder nach ihr, weil es irgendein Anliegen hatte. Ohne ihr glückliches Temperament hätte Annemarie diese schwere Leidenszeit kaum ertragen können. Natürlich wollte Frau Braun zusammen mit der treuen Hanne sofort ihrem »Nesthäkchen« zu Hilfe eilen.
Aber Annemaries Mutter litt selbst an einem Bronchialkatarrh und mußte das Bett deshalb hüten. Die Großmama, die seit Tante Albertinchens Tod zu Brauns übergesiedelt war, pflegte ihre Tochter, denn auch Hanne versagte. Oder vielmehr ihre Füße. Die wollten - wie sie sagte - »partuh nich mehr von die Stelle«. Natürlich versuchte auch Rudi, sofort zu Annemaries Entlastung eine Aushilfe ins Haus zu nehmen. Das war leichter gesagt als getan. Waren diese kostbaren Personen in Berlin schon kaum aufzutreiben, so konnte man sie draußen in Lichterfelde mit der Laterne vergeblich suchen. Das einzige, was Doktor Hartenstein erreichte, war, daß eine dankbare Patientin, eine Briefträgerin, jeden Morgen eine Stunde die gröbste Arbeit verrichtete, bis auch sie von der Grippe ergriffen wurde und nicht mehr kommen konnte.
Flochen, auf deren Genesung man drei Wochen lang vergeblich gehofft hatte, legte sich auch noch eine Rippenfellentzündung zu. Man mußte sie ins Krankenhaus schaffen. Hansi, der bereits in der Rekonvaleszenz war, konnte überhaupt nicht mehr gebändigt werden. Sobald Annemarie den Rücken gewandt hatte, war er außerhalb des Bettes. Während seine Eltern die Überführung ins Krankenhaus bewerkstelligten, klebte er wie eine Winterfliege an dem gefrorenen Fensterglas und hauchte Gucklöcher hinein.
»Flößen fird auf'ifeines Auto abdeholt«, meldete er aufgeregt.
Aber seine Schwestern, die große wie die kleine, hatten gar kein Interesse für seine Mitteilung. Vronli lag noch immer mit hohem Fieber im Bett und machte die Augen überhaupt nicht auf. Und als Hansi die Mutter gefragt hatte: »Muttißen, is Vronli nu bald tot?« da waren der Mutter die Tränen aus den Augen gestürzt, und sie hatte ganz leise gesagt: »Gott erhalte sie uns, unser Vronli!« Und Hansi, obwohl er noch ein rechtes Dummerchen war, merkte doch an Muttis Tränen, daß
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