Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Berlin?«
»Sag, ist Ursel noch immer solch ein Frechdachs wie früher?«
»Ursel ist eine junge Dame geworden, die jetzt die Bank, an der man sie angestellt hat, auf den Kopf stellt. Außerdem schielt sie arg zur Opernbühne. Zum Glück oder auch zu ihrem Unglück - wer vermag das vorher zu sagen - hat mein Mann energisch einen Riegel vor diese, für seine Begriffe unbürgerlichen Wünsche geschoben.«
»Schade um ihre entzückende Stimme«, schaltete sich Margot ein. »Ich sage dir, das Mädel trillert wie eine Lerche. Auch das sprühende Temperament für die Bühne hat sie.« »Na, so muß es kommen. Margot, unser einstiger Tugendmoppel, verteidigt die Bühnenlaufbahn«, lachte Frau Ilse. »Hat sich die Ursel denn dem väterlichen Willen so brav gefügt? Das sieht ihr doch gar nicht ähnlich.«
»Hat auch genug Kämpfe gekostet. Man kriegt nicht umsonst seine grauen Haare.« Annemarie fuhr sich mit drolligem Gesichtsausdruck durch ihr Goldhaar. »Vorläufig haben wir einen Kompromiß geschlossen: Sie nimmt Gesangstunde. Aber damit nicht genug - sie unterrichtet auch bereits. Die Brasilianer, die bei Mutter wohnen, haben in ganz Berlin keinen besseren Musiklehrer finden können als unser Urselchen. Dazu mußten sie extra über den Ozean schwimmen. Auch deutschen Unterricht erteilt sie ihnen in ihrer freien Zeit, was ihr ungeheuer Spaß macht.«
»Nun, da wird die Ursel doch bald ein kleiner Krösus werden. Solche Stunden werden doch glänzend bezahlt. Das ist selbst in unsere Weltabgeschiedenheit gedrungen«, überlegte die praktische Gutsfrau.
»Ja, da liegt der Hase im Pfeffer. Denkt ihr, das Mädel hat irgendein Honorar vereinbart? Paßt ihr nicht, Geld zu nehmen, zum größten Ärger von Hansi. Aber noch empörter darüber ist Mutters alte Hanne. Die macht jedesmal ein Gesicht wie eine Bulldogge, wenn Ursel zur Stunde kommt.«
»Hahaha - wenn Hanne ihren Koller kriegt, dann sieht sie aus wie unser Puter da drüben. Schon als Junge habe ich mich darüber belustigt«, beteiligte sich der von seinem Rundgang durch die Stallungen zurückkehrende Gutsherr. »Schade, daß du sie nicht alle mitgebracht hast, Annemie. Vor allem Hans, den ollen Jungen. Der muß nach all dem Unerfreulichen, das ihm die letzten Jahre gebracht haben, öfters mal von mir brüderlich aufgerüttelt werden.«
»Ja, da bin ich die Schuldige, Klaus, daß der Hans zu Hause bleiben mußte«, meldete sich Margot. »Das Mädchen hat an den Feiertagen Urlaub, und allein wollte er das Haus nicht lassen.«
»Ja, was hast denn du in aller Welt mit Hansens Hausvatersorgen zu tun, Margot?« lachte Klaus Braun.
»Wirkst du etwa so abschreckend, Margot, daß er nicht mitfahren wollte, wenn du dabei bist?« neckte auch Ilse die Freundin.
Ehe Margot noch antworten konnte, hatte Annemarie bereits das Wort ergriffen. »Margot ist doch seit vierzehn Tagen der gute Engel in Hansens Hause. Sie hat rührenderweise ihren Haushalt und ihre Selbständigkeit aufgegeben, um ihm und den Jungen das öde Heim wieder erfreulicher zu gestalten.«
Klaus Braun reichte der Jugendfreundin mit »bist 'n braver Kerl, Margot!« seine derbe Landmannshand hin und drückte ihre schmale Rechte anerkennend. Seine Frau aber rief: »Aha - darum kamen mir Waldemar und Herbert auch diesmal gleich so wohlerzogen vor. Das ewig Weibliche zieht uns hinan - Margots Einfluß auf die Jungen ist bereits unverkennbar.«
In diesem Augenblick hörte man lautes Hallo. Lachende und johlende Jungenstimmen, dazwischen eine schimpfende. Werner kam im Trab zu dem Nußbaumtisch gejagt, schon von weitem rufend: »Vating - Mutting - der Waldemar hat den Herbert 'n büschen in'n Komposthaufen gestoßen - koppheister hat er ihn reingeschmissen. Und nu sieht er all wie 'n Mistbeet aus und stinken tut er...«
Frau Ilse stieß einen Stoßseufzer aus: »Na, das kann ja noch gut werden!« Aber die Pfingstsonne lachte am nächsten Tag all diese Wolken davon.
Lockende Ferne
Wochen und Monate waren dahingegangen. Die schönsten Stunden für Ursel in der Woche waren die geworden, in denen sie regelmäßig mit dem brasilianischen Geschwisterpaar musizierte. Schon in der Bank, wo sie sich noch immer nicht als ernstes Glied eingefügt hatte, wo das Zahlengewirr ihr noch ebenso fremd und unsympathisch gegenüberstand wie am ersten Tage ihrer Banklehrlingslaufbahn, versüßte die Aussicht auf die gemeinsamen Abendstunden mit Margarida und Milton Tavares ihr die bittere Pille unbefriedigter Pflichtarbeit.
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