Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
gewaltig. Die wartende Menschenmenge am Hafen durchlief eine Welle lang zurückgehaltener Erregung: »Sie kommen - sie kommen!« Tücher wurden in Bewegung gesetzt - laute Zurufe erschallten, die vom Schiff erwidert wurden. Man drängte, man stieß, ein ungeheurer Tumult spielte sich an der Landungsbrücke ab.
Etwas abseits vom lauten Getümmel, aber so, daß keiner der ans Land Verladenen ihnen entging, standen Geheimrats. Frau Annemarie ließ ihr Tüchlein den Ankömmlingen entgegenflattern. Aber welches von all den Tüchern und Schleiern an Bord antwortete? Sie sah nur einen gewaltigen, aufgeregten Menschenknäuel, aus dem sich ab und zu einzelne erkannten. Hier schlossen sich jahrelang Getrennte unter Lachen und Weinen in die Arme. Dort rief man suchend Namen in das Gewühl hinein. In allen Sprachen wurde nach Gepäckträgern, nach Autos verlangt.
Eine babylonische Verwirrung herrschte. Weiße und Farbige spie der Ozeandampfer aus. Frau Annemarie faßte den Arm ihres Mannes. »Du, Rudi, wo bleiben die Kinder? Unser Urselchen wäre sicher eine der ersten gewesen. Die hätte es nicht so lange auf dem Schiff ausgehalten.«
»Recht ist's, daß die Mädel das Hauptgedränge vorüberlassen. Sie werden schon kommen.« Er beobachtete scharf die an Land steigenden.
Auch Frau Annemarie starrte angestrengt in das schwarze Knäuel, das sich da im grellen Sonnenlichte vor ihr abhaspelte.
Schon lichtete es sich an Bord des Schiffes. Da - Frau Annemarie packte plötzlich den Arm ihres Mannes fester. Hinter einer langen, aufrecht und steif einhergehenden Dame tauchten zwei junge Mädchen im Backfischalter auf. Die eine groß, schlank, brünett, mit schwarzlockigem Haar, eine exotische Schönheit. Die kleinere, die sich an den Arm der größeren schmiegte, von zarterem Liebreiz. Suchend überflogen ihre dunklen Augen die an Land wartende Menge.
»Anita - Marietta!« Laut rief Frau Annemarie die Namen der Enkelkinder hinüber. Sie winkte mit ihrem Tuche - ja, das waren sie!
Von der Schiffsbrücke wehte es zurück. Mariettas Tüchlein flatterte der Großmutter als erster Gruß entgegen. Anita begnügte sich damit, die fein behandschuhte Rechte grüßend zu heben.
»Willkommen - willkommen, meine Kinder, meine lieben!« Mit dem rechten Arm zog Frau Annemarie Anita an ihre Brust, mit dem linken Marietta. Ihre Kinder - die Kinder ihrer Ursel!
Anita schien von der großmütterlichen Zärtlichkeit nicht angenehm berührt. Sie machte sich aus dem sie umschlingenden Arm frei und küßte die kleinere Großmutter auf die Wangen.
»Guten Tag, Großmama, wie geht es Sie?« sagte sie dabei in gesellschaftlich liebenswürdigem Ton.
Frau Annemarie blickte in das schöne, bräunliche Mädchenantlitz, in die veilchenblauen Augen, die die fremde Großmutter neugierig kühl musterten. Das heiße Gefühl, das sie noch eben durchflutet hatte, begann abzuebben.
Da fühlte sie Mariettas Arm um ihren Hals, Mariettas zartes Gesicht sich zärtlich gegen das ihre pressen. Auch sie drückte der Großmutter zur Begrüßung einen Kuß auf die Wangen, aber Wärme und Innigkeit lag dann. »Unsere Mammi schickt das Kuß.« Das war das erste, was Marietta sprach.
»Mein Kind, mein Liebes!« Noch einmal zog die Großmutter die Enkelin an ihr Herz. Inzwischen war auch der Geheimrat herangekommen. »Na, da hätten wir sie ja, unsere Mädele. Grüß' dich Gott, Annele, du bist's doch, gelt?« Ehe Anita wußte, wie ihr geschah, hatte der alte Herr ihr einen kräftigen Kuß auf die Wange gedrückt. Was kümmerte es ihn, daß die junge Enkelin ein entsetztes Gesicht zu seiner Anrede machte. »Ich bin Anita«, sagte sie.
»Ach was, Anita - hier reden wir gut Deutsch, mein Mädel. Und das hier ist halt unser Mariele, gelt, hab' ich's erraten? Mädle, hast dir ja deine Guckerle nimmer gewaschen. Nun, Annemarie, Fraule, was sagst du zu den zwei Prachtmädele? Tropenblüten sind halt doch nicht so übel?« Der Großvater strahlte beim Anblick der reizenden Enkelinnen. Er sprach laut und ungeniert, während seine Frau die verschiedenartigen Empfindungen, die sie durchpulsten, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht zum Ausdruck zu bringen vermochte. Sie wandte sich einer diskret die Begrüßungsszene mitanschauenden Engländerin zu. »Miß Smith, nicht wahr? Die Freundin unserer Kinder. Seien auch Sie uns herzlich willkommen und haben Sie Dank, daß Sie uns unsere Mädel auf der langen Reise so treulich behütet haben.«
Gemessen legte Miß Smith ihre Rechte
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