Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Den Herrn schien der Betrieb zu belustigen. Er versuchte seine Begleiterin bald auf dieses, bald auf jenes aufmerksam zu machen. Aber der Blick ihrer leuchtendblauen Augen blieb ziemlich teilnahmslos. Sie nickte und lächelte wohl zu den Worten des Gatten, aber es fehlte die innere Freudigkeit dabei.
Schließlich legte sie ihre Hand auf die seine: »Du meinst es gut, Rudi, ich weiß es, daß du mich ablenken und zerstreuen willst. Aber es wird dir heute nicht viel nützen. Es ist mir zu weh ums Herz. Wenn ich die blonde Dame da drüben sehe, dann denke ich: 'So könnte unsere Ursel bald neben uns sitzen.' Kannst du es nicht verstehen, Rudi, daß ich hier in Hamburg die Enttäuschung doppelt und dreifach empfinde? Wie anders habe ich mir meinen Hamburger Aufenthalt ausgemalt während der langen Jahre.« Die Dame zog ein Batisttuch aus der Tasche und fuhr sich damit über das Gesicht. Keiner bemerkte, daß Tränen sich von ihren Wimpern lösten. Keiner? Ihr Gefährte schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Annemarie, Fraule, bist doch kein Kind mehr, daß du mit dem Kopf durch die Wand willst. Gegen unvorhergesehene Ereignisse sind wir halt machtlos. Wollen froh sein, daß sich Milton bei dem Sturz mit dem Pferde nicht das Genick gebrochen hat, sondern nur das Bein. Einen Strich durch die Rechnung macht einem das Leben manchmal. Daran hättest du dich allmählich schon gewöhnen können. Und undankbar ist's obendrein von dir. Ja, schau mich nur an, es ist halt so. Kriegst zwei junge Enkeltöchter, die du noch gar nimmer kennst, ins Haus, und, anstatt dich auf sie zu freuen, machst du ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Wenn du die Mädel so empfängst, werden sie bald wieder nach Brasilien Reißaus nehmen.« Der alte Herr kam ungeachtet der schönen Klavierklänge so ins Poltern, daß an einigen Nebentischen »st - st« gemacht wurde.
Frau Annemarie legte ihrem Gatten beruhigend die Hand auf die seine. - »Mach doch nicht solchen Radau, Rudi, wir fallen auf. Was du mir da vorwirfst, habe ich mir hundertmal schon gesagt.« Sie zog aus der Handtasche ein ziemlich zerknittertes Telegramm und glättete es.
»Milton Pferd gestürzt. Beinbruch. Kommen unmöglich. Kinder allein. Schiff Ankunft Hamburg 18. Mai. Gruß Ursel.«
Wie oft hatte die Mutter die Worte schon gelesen. »Nun, Weible, kannst sie noch nicht auswendig, die Depesche?« zog ihr Mann sie auf.
»Rudi, ob du's glaubst oder nicht, so groß meine eigene Enttäuschung ist - und riesengroß ist sie -, mehr noch denke ich an unsere Ursel, was für bittere Stunden sie durchlebt haben muß. Schrieb sie uns doch in ihrem letzten Brief, sie sei mit ihren Gedanken schon mehr in Deutschland als in Brasilien. Sie zähle wie ein Schulkind zu den Ferien die Tage bis zu unserem Wiedersehen. Zum ersten Mal in all den Jahren hat sie uns ihre Sehnsucht offenbart. Und wird nun wieder so grenzenlos enttäuscht.« Frau Annemarie blickte feuchten Auges auf die sonnenglitzernde Alster hinaus, auf der kleine Dampfschiffe und Ruderboote schaukelten.
»Ursel wird Gott danken, daß ihr Mann nur mit einem Beinbruch davongekommen ist. Haben wir so lange auf sie gewartet, müssen wir uns halt noch weiter gedulden. Vielleicht läßt sie uns durch die Kinder sagen, daß sie mit einem der nächsten Schiffe nachkommt, wenn das Bein gut verheilt.«
»Mein armer Mann, hast selbst genügend an der Absage zu knabbern und mußt nun auch noch deine Trübsal blasende Frau mit in Kauf nehmen. Ich geb' mir ja, weiß Gott, redliche Mühe, mich auf die Kinder zu freuen. Aber - daß ich's nur gestehe - ich krieg's nicht fertig. Rudi. Alles, was ich aufzubringen vermag, ist ein gewisses Gefühl der Beklemmung, der ängstlichen Erwartung. Wie werden sie sein? Wie werden sie den Großeltern entgegenkommen? Wird es da wieder Enttäuschungen geben?«
»Himmelbombenmohrenelement - Annemie, ich kenn' ja mein tapferes Weible nimmer wieder. Wenn du sie an dein warmes Herz nimmst, die Krabben, dann wird's ihnen wärmer zumute werden als bei brasilianischer Tropensonne. Es sind doch die Kinder unserer Ursel.«
»Die Kinder unserer Ursel.« Seine Frau wiederholte leise diese Worte, als wollte sie sich daran anklammern.
Auch am nächsten Tage, als man in St. Pauli Landungshafen der Ankunft des südamerikanischen Schiffes mit vielen anderen Wartenden entgegenschaute, klangen diese Worte in Frau Annemaries Innerem nach.
Und nun war's soweit. Da rauschte es heran, das schwimmende Riesenhaus, majestätisch und
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