Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
sitzen?« Zwar verstand der kleine Neger kein Wort deutsch. Aber auf den Wink der Dame sprang er auf und näherte sich dem Tisch. Fragend blickte er auf die jungen Mädchen, um Befehle entgegenzunehmen.
Anita war bei den Worten der Großmama das Blut zu Kopf gestiegen. Sie machte gegen Homer eine abwinkende Handbewegung. »Setze dich wieder drüben an den Tisch«, befahl sie in portugiesischer Sprache. Homer tat, wie ihm befohlen.
Die Großmama aber fragte erstaunt: »Ja, Anita, was soll denn das heißen? Warum schickst du den Jungen wieder fort?«
»In Brasilien Herr und Diener nicht sitzen an ein Tisch«, gab Anita voll stolzer Überhebung zur Antwort. Zum ersten Mal in ihrem Leben zwang Frau Annemarie die impulsive Antwort, die sich ihr auf die Lippen drängte, zurück. Sie durfte die Enkelin nicht zurechtweisen, sie nicht gleich kopfscheu machen. Sie mußte erst ihre Liebe gewinnen, um Einfluß auf sie zu bekommen. So sagte sie nur: »Du bist jetzt hier in Deutschland, Anita. Hier gelten so dummstolze Standesunterschiede bei vernünftigen Menschen ebensowenig wie drüben in Amerika. Dessen bin ich sicher.«
»Homer ist Neger«, kam Marietta ihrer Schwester zu Hilfe.
»Homer ist Neger«, wiederholte auch Anita. »Und ich bin eine Tavares!«
»Dann bist du etwas Rechtes!« entfuhr es der Großmama. Nein, Frau Annemarie hatte es immer noch nicht gelernt, trotz der Silberfäden in ihrem Haar, ihre Empfindungen zurückhalten. »Ein Mensch bist du vor allem, gerade solch ein Mensch, wie Homer es ist.
Ob die Hautfarbe weiß oder schwarz ist, dafür kann keiner. Aber ob das Herz weiß oder schwarz ist, darauf kommt es an.« Nun hatte sie doch, gegen ihren Willen, gleich in der ersten Stunde des Beisammenseins mit den Kindern geschulmeistert. Aber bleibe einer mal ruhig, wenn er so unüberlegtes, unreifes Zeug zu hören bekommt. »Habe ich nicht recht, Miß Smith?« wandte sie sich an die unbeteiligt dabeisitzende Gouverneß. »O yes, indeed«, quetschte diese mühsam durch die Zähne, denn ihr war noch entsetzlich übel.
»Wie stellen sich denn eure Eltern nur zu solchen Anschauungen, Kinder? Ich kann mir kaum denken, daß eure Mutter damit einverstanden ist«, meinte die Großmama nachdenklich.
»Mammi nicht kennt Unterschied bei Herr und Diener, bei Weiße und Neger«, gab Marietta ehrlich zu.
»Mammi ist nicht Amerikanerin.« Das hatte Anita auch drüben in Brasilien oft gesagt, wenn die Mutter der herrischen Art ihres Töchterchens, Untergebenen gegenüber, gesteuert hatte.
Frau Annemarie seufzte unhörbar. Hier gab es Arbeit, viel Arbeit. War sie nicht schon zu alt, um sich das noch zutrauen zu können? War sie dem noch gewachsen? Anita schien trotz ihrer Jugend ein selbständiger, in sich gefestigter Charakter. Aber mit Liebe, mit dem Verständnis, das Frau Annemarie einem jeden und ihren Enkelkindern ganz besonders entgegenbrachte, würde es schon gelingen.
Der Großvater blieb doch länger, als man geglaubt hatte. Die Großmama bestellte für alle Kuchen mit Schlagsahne, was Lottchens Entzücken hervorrief. Anita, die sich durch die zurechtweisenden Worte der Großmama in ihrer Eitelkeit gekränkt fühlte, war schlechter Laune. Nachdem sie ein Löffelchen von der Schlagsahne gekostet hatte, zerbröckelte sie den Kuchen und fütterte Jimmy damit.
Der Großmama gab es einen Stich ins Herz. Man rechnete bei Geheimrats. Wenn die wirtschaftlich bösen Zeiten auch vorüber waren, Sparsamkeit war der älteren Generation in Fleisch und Blut übergegangen. Anitas Tun erschien Frau Annemarie eine Vergeudung, ganz abgesehen davon, daß Jimmy sich durchaus nicht ihrer Sympathie erfreute. »Anita, den Kuchen habe ich für dich bringen lassen. Warum ißt du ihn nicht? Für den Affen ist er wirklich zu schade«, äußerte sie sich in ihrer geraden Weise. »Oh, Jimmy liebt nur Gutes, sehr Gutes. Ich nicht will essen das Kuchen. In Sao Paulo Kuchen ist mehr gut«, antwortete Anita.
Nein, die Großmama wollte sich nicht ärgern. Sie wollte sich die Freude an den langersehnten Enkelinnen nicht verkürzen. Darum sagte sie freundlich zu Marietta: »Aber dir schmeckt es, mein Herzchen?«
Marietta bestätigte eifrig und blickte bittend auf die Zwillingsschwester. Sie war zartfühlend genug, um Anitas Verhalten als verletzend für die Großmama zu empfinden. Anita war unberechenbar. Oft ließ sie sich durch Mariettas bittendes Auge beeinflussen. Öfter aber lehnte sie sich auch als Überlegene dagegen auf. So auch heute.
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