Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
Mathilde?« erkundigte sich Marietta. »Bei uns nicht heißt Mathilde, heißt Gallinha«, sie zeigte auf das gebratene Huhn.
»Hier heißen die Hühner für gewöhnlich auch nicht Mathilde.« Wie herzlich die Großmama lachen konnte.
»Bei uns Köchin tranchieren, und Diener präsentiert Schüssel.« Fräulein Anita erschienen die Gepflogenheiten im großväterlichen Hause nicht vornehm genug.
»Hier ist der Großvater die Köchin, und 's Großmutterle präsentiert die Teller, gelt, meine Alte?« Liebevoll nickte der Großpapa seiner Frau zu. Er war wieder in bester Laune.
Die »Mathilde« war verzehrt und hatte allgemein gut gemundet. Wenn auch die Tropenkinder den Olivensalat und »Farofa«, eine pikante brasilianische Beilage, dazu vermißt hatten.
Aber Frau Trudchens Grießflammeri erfreute sich nicht des Beifalls der jungen Gäste. Marietta zwang sich aus Höflichkeit, ihn zu essen. Anita schob nach dem ersten Bissen den Teller fort.
»Deutsche Doces nicht bonito - nicht gut. Ist Farinha, wir streuen auf Bohnen. Soll Donna Trudchen bringen andere Doces«, sagte sie in befehlendem Ton.
»Anita, wir sind hier nicht im Restaurant. Wir haben keinen Speisezettel zur Auswahl. Was auf den Tisch kommt, wird gegessen«, sagte die Großmama in bestimmtem Ton. »Ich nicht liebe das.« Anita war nicht zum Weiteressen zu bewegen, obwohl auch die Miß mißbilligend meinte, es sei nicht ladylike, etwas stehenzulassen.
»Ja, mein Herzchen, da wirst du aber nicht satt werden.« Die Großmama zuckte bedauernd die Achsel, während der Großpapa »Gesegnete Mahlzeit« wünschte. »Ist schon zu Ende?« Nein, das konnte sich das im Überfluß aufgewachsene Mädchen gar nicht vorstellen. »Fehlt Pastete, fehlt Fisch, fehlt Beef, fehlt Käse, fehlt Mokka. Hungern die Menschen in deutsche Land?«
»O ja, es gibt hier auch Menschen, arme Menschen, die hungern müssen. Aber nicht, wenn sie Suppe, Huhn und Flammeri gegessen haben.« Frau Annemarie war mit Recht ärgerlich, daß die verwöhnte Enkelin das tadellos zubereitete Essen so wenig würdigte. Gut, mochte sie ruhig noch nicht gesättigt sein. Hunger war der beste Erzieher zum Essen.
»Wir sollen liebe Großmama bitten, zu zeigen uns Meierzimmer, unsere Mammi hat gesagt«, unterbrach da Marietta ihre pädagogischen Überlegungen.
»Maierzimmer ... Meier ...?« Die Großmama verstand beim besten Willen nicht. »Rudi, was kann das Kind meinen?«
Aber auch der seine Pfeife stopfende Großpapa wurde nicht daraus klug. »Alte Meierzimmer, wo sind alte schöne Sachen von alte Zeit«, erläuterte die Enkelin. »Ach, das Biedermeierzimmer - Rudi, sie meint meine Biedermeierstube!« Die Großmama lachte, daß ihr die Tränen in die blauen Augen traten. »Also kommt, wenn ihr mein Heiligtum sehen wollt.«
Neugierig folgten die Mädel. Die Mutter hatte ihnen so viel von dem Biedermeierzimmer mit allen seinen lieben Erinnerungen erzählt, daß sie sich darunter ein kleines Märchenreich vorstellten. Natürlich waren sie enttäuscht, vor allem Anita. »Altes Möbel, keine Seide, kein Leder auf Sessel - nicht gefällt mir. Ist eng, ist voll, Bilder nicht schön, nicht vornehm.« Daheim hatten sie große Ölgemälde.
»Diese Bilder, die du nicht schön und nicht vornehm findest, Anita, sind deine Urgroßeltern. Dies alte Bild zeigt meine Großmutter, eure Ururgroßmutter. Das ist eure Ahnengalerie. Wenn die Lieben, Guten es gewußt hätten, daß mal zwei Nachkömmlinge aus Brasilien kommen und ihre Bilder nicht schön genug finden würden.« Frau Annemarie sprach mehr zu sich als zu den Kindern.
Aber Marietta hörte oder sie empfand vielmehr das Wehmütige in ihrem Ton heraus.
»Oh, ist schön, kleines Meierzimmer, moito bonito. Nita, sieh die schönen Tassen in
Glaskasten.« Sie wies auf das Glasvertiko mit den antiken Goldtäßchen.
»Werden wir trinken aus Goldtassen?« erkundigte sich die Schwester.
»Nein, Kind, die sind nur zum Anschauen, ich wäre traurig, wenn mir eine entzweiginge.«
»Dann nicht schön, wenn nicht zum Trinken«, bemerkte die nüchterne und praktische Amerikanerin.
»Was ist für kleines, hübsches Tisch?« Marietta, die voller Neugierde in alle Ecken des von ihrer Mutter so hochgehaltenen Raumes umherspähte, wies auf das Erkerplätzchen am Fenster.
»Das ist mein Nähtischchen. Siehst du, mein Herzchen, da habe ich euch alle bei mir, wenn ich hier sitze und nahe.« Die Großmama wies auf den Familienrahmen. »Ist Nähtisch Nähmaschine?« erkundigte
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