Nestroy-Jux: Ein Wiener Kaffeehauskrimi (German Edition)
erzählen
schrecklich auf die Nerven ging, fest.
»Du verstehst
mich nicht. Ich habe mir das Foto damals, als ich es dieser Rita Toth unter die
Nase gehalten habe, nicht genau angeschaut. Eine schwere Nachlässigkeit von mir,
genau genommen ein unverzeihlicher Fehler. Jetzt ist auf einmal ein furchtbarer
Verdacht in mir aufgekeimt. Ich wollte das Foto noch einmal sehen, und der Verdacht
hat sich bestätigt. Der Mann auf dem Bild ist gar nicht Walters. Das heißt, es ist
nicht der Walters, den ich damals in der Früh bei uns im Kaffeehaus gesehen habe.
Die Person, die ich damals gesehen habe, kann also nicht Walters gewesen sein, verstehst
du?«
»Bist du
sicher?«, fragte Korber jetzt neugierig.
»Zu 100
Prozent«, antwortete Leopold. »Ich war verblendet. Oh, wie war ich verblendet! Dabei
habe ich nur getan, was Menschen für gewöhnlich zu tun pflegen: Ich habe das geglaubt,
was ich gesehen habe. Das war natürlich völlig falsch. Man hat mich schändlich hinters
Licht geführt, ausgehend von der Tatsache, dass ich Walters ja nie von Angesicht
zu Angesicht gegenübergestanden bin. Also bediente sich der Mörder einer Verkleidung
– unter Umständen sogar der Kleidungsstücke von Walters – um mich zu täuschen. Und
ich bin darauf hereingefallen. Schauspielerpack, elendes!«
»Es ist
also um das Alibi gegangen«, dämmerte es Korber.
Leopold
pflichtete ihm bei: »Erraten. Wenn Walters am Freitagmorgen hier im Kaffeehaus war,
dann konnte er noch nicht tot sein. Er ist aber offensichtlich schon am Vorabend
oder in der Nacht umgebracht worden. Der Mörder ist hierher gekommen, um uns in
die Irre zu führen. Er hat erreicht, dass wir uns alle in der Todeszeit um etliche
Stunden geirrt haben, auch weil der Zustand der Leiche kein eindeutiges Urteil zuließ.
Für die angenommene Tatzeit am Abend hat er sich dann ein Alibi verschafft.«
»Und dir
ist wirklich überhaupt nichts aufgefallen?«
»Nein, nicht
das Geringste. Ich bin ja kein Mister Allwissend. Dabei hätte mich eine Sache stutzig
machen müssen, nämlich dass ich die Leiche nicht als Walters identifizieren konnte.«
»Ich habe
ihn ja auch nicht erkannt«, winkte Korber ab. »So ohne Perücke und mit der aufgedunsenen,
verschrumpelten Haut hat er einfach kaum mehr Ähnlichkeit mit dem lebenden Walters
gehabt.«
»Dass du
ihn nicht erkannt hast, ist normal«, desillusionierte Leopold seinen Freund. »Dir
hat gegraust, dein Liebesabenteuer war verpatzt, und über deine Fähigkeit, zu den
verwesenden Wesenszügen eines menschlichen Wesens etwas Wesentliches festzustellen,
breiten wir lieber den Mantel des Schweigens. Aber dass es mir nicht gelungen ist,
hätte mir zu denken geben müssen. Leider habe ich erst jetzt den Tipp von Nestroy
richtig deuten können.«
»Von Nestroy?«
Korber verstand wieder einmal Bahnhof.
»Ja, von
dem Herrn, der das Stück geschrieben hat, in dem du gerade mitspielst. Der ist dir
doch ein Begriff, oder?«
Korber nickte
verlegen. In Augenblicken wie diesen war es besser, Leopold einfach weiterreden
zu lassen. Der tat das auch mit Genuss: »Schon immer war ich der Gruppe der Schauspieler
gegenüber misstrauisch. Nestroy hat mir dann die Augen geöffnet. Ich habe begonnen
zu ahnen, welche Möglichkeiten der falschen Vorspiegelung und Manipulation so ein
Komödiant hat. Aber ich habe die Zusammenhänge nicht gleich durchschaut. Selbst
heute bei eurer Probe sind mir zu viele Gedanken im Kopf herumgeschwirrt. Mit deinem
Programmheft bin ich plötzlich auf den Kern der Sache gestoßen. Die Schauspielerei
wurde als Waffe eingesetzt, um den wahren Hergang der Tat zu verschleiern.«
»Weißt du
schon, wer der Mörder ist?«, fragte Korber ungeduldig.
»Langsam,
langsam. Ich bin mir ziemlich sicher, aber mir fehlt noch der Beweis. Lass mich
lieber nachdenken. Das Tatmotiv muss das Geld gewesen sein, das heißt die 1,8 Millionen
von Walters. Der Neid, würde Nestroy sagen.« Leopold überlegte kurz. »Um Gottes
willen, weißt du, wo sich Anette Riedl zurzeit aufhält?«, wollte er dann wissen.
»Keine Ahnung«,
meinte Korber achselzuckend. »Wahrscheinlich ist sie nach der Probe nach Hause gefahren.
Ist das wichtig?«
»Und ob!
Das Mädchen schwebt vermutlich schon seit einiger Zeit in Gefahr.«
»Du meinst
…«
»Ich meine
Folgendes: Anette ist aller Voraussicht nach die Erbin einer beträchtlichen Geldsumme.
Wenn jemand aus Neid und Enttäuschung darüber Herwig Walters umgebracht hat, dann
hat er es vermutlich auch auf sie
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