Netha-Chrome
zu stehen. So wie alle anderen hier unten auch.
„Also stehen wir wohl demnächst auf sämtlichen Most-Wanted-Listen des MSS“, bemerkte ich. „Als zum Terrorismus übergelaufene Agenten.“
„Wenn irgendjemand herausfindet was passiert ist und wo wir uns momentan befinden, ja“, antwortete die KI kühl. Ich grinste schelmisch.
„Das ist irgendwie cool.“
„Sie finden das cool?“ Sydney zog ihre Augenbrauen herunter. Ich zuckte mit den Achseln.
„Na ja. Ich war schon immer ein Fan von berühmten Outlaws. Bonnie und Clyde, Billie the Kid, der Robin Hood des 22. Jahrhunderts Lesley Wallcott…“
„Tut mir Leid, wenn ich das nicht ganz so cool finden kann wie Sie. Im Moment herrscht eine große Diskrepanz in meinen Programmen. Ich wurde darauf programmiert, das allgemein gültige Gesetz zu achten und zu schützen. Durch die Löschung des Mentha-Programmes sind alle meine Ethik-Routinen durcheinandergeraten. Für Sie mag es leicht sein, abrupt die Fronten zu wechseln. Für mich nicht.“
Ich schaute die KI an. Sie war nachdenklich, versuchte gerade anscheinend krampfhaft, das Für und Wider unseres Handelns abzuwägen. Wie ich die Maschine kannte, versuchte sie die Situation zu analysieren und die möglichen Konsequenzen durchzuspielen, die unsere „Abtrünnigkeit“ zur Folge haben könnte. Obwohl es für mich alles andere leicht war, einfach so „die Fronten zu wechseln“, so wie sie behauptet hatte, so schien ich doch einen kleinen Vorteil ihr gegenüber zu haben. Ich handelte eben nicht nach Programmen und Ethik-Routinen und konnte mich somit vermutlich besser auf die neuen Gegebenheiten einstellen als sie. Aber ich wusste, dass es trotz alledem nicht lange dauern konnte, bis auch sie alles verarbeitet hatte. Sydneys Programmierung war im Gegensatz zu anderen KIs nichtlinear, also war ihre Ethik auch abänderbar.
„Sie haben doch schon öfters ihre Ethik-Routinen und Grundprogramme über Bord geworfen“, sagte ich. „Warum ist das jetzt so schwer?“
„Eine Grundprogrammierung zu umgehen ist einfacher, als das ganze Dasein umzukrempeln, Arkansas. Ich bin als Agentin des MSS programmiert worden, nicht als Widerständlerin gegen das System.“ Ich näherte mich ihr und nahm ihre Hand. Unsere Blicke trafen sich.
„Wir tun das Richtige, Syd. Glauben Sie mir.“
„Das weiß ich“, antwortete die KI und senkte ihre Stimme, sodass ich sie durch die Musik kaum noch verstand. „Und ich weiß auch, dass die Machenschaften des Protektorates aufhören müssen. Aber ich muss nun erst einmal alles, was ich in den letzten Stunden erfahren musste, verarbeiten. Meine Ethik-Routinen sind von Programmierern des Protektorates entwickelt worden und auf das vorherrschende System abgestimmt. Zeit meiner Existenz waren all diese Dinge vollkommen legitim, doch nun steht das alles in einem krassen Kontext zueinander. Es…es ist für einen Menschen schwer zu verstehen.“
„Glauben Sie?“, entgegnete ich und unsere Blicke trafen sich erneut. „Wenn einem jahrelang lang erzählt wird, dass es gut ist, was die Regierung tut und man plötzlich merkt, dass es eigentlich alles andere als gut ist, ist das für einen Menschen ebenso schwer wie für Sie. Ähm, denke ich zumindest.“
Sydney Lippen umspielte ein Lächeln, als sie meinen Gesichtsausdruck studierte. Ich klang so, als könne ich mich in sie hineinversetzen. Aber das konnte ich nicht. Genauso wenig wie sie sich in mich hineinversetzen konnte. Aber wie dem auch war, es stand fest, dass wir beide eine Zeitlang benötigen würden, um alles zu begreifen.
„Damit haben Sie wohl Recht“, lächelte Sydney.
Die Bässe um uns herum veränderten sich und wurden dumpfer. Zeitgleich begann mein kybernetischer Arm wieder zu schmerzen wie die Hölle. Diese Tonlagen mochte er anscheinend gar nicht.
Washington war bereits vorgegangen. Von meiner Warte aus konnte ich sehen, wie er sich zu Toluca in den gläsernen Raum abseits des Trubels gesellte. Beide unterhielten sich, während Washingtons Blicke Sydney und mich suchten.
Ich kramte zwei Vicodin-Kapseln aus meiner Manteltasche und hielt sie in der Hand, als mich jemand von hinten anrempelte und ich sie beinahe fallengelassen hätte. Ich riss meine Blicke herum, aber der Rempler war schon wieder weg. Kaum schaute ich wieder nach vorne, stahl sich ein junges Mädchen an mir vorbei. Keine Zwanzig Jahre, rotleuchtende und krause Haare bis zu den Schultern, auffallend grüne Augen. Vermutlich Bio-Upgrades. Die
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