Netha-Chrome
gesorgt, dass kaum noch Flüchtlinge von der Erde hierherkamen, dass kaum noch Waren importiert worden waren und hatte zudem immer wieder Misstrauen gegen die Menschen von Terra gesät. Und ich war auf dieser Welle mitgeritten, so wie viele andere Marsianer auch. Ich hatte bislang immer geglaubt, meine Abneigung gegen Terraner hätte etwas mit meinen Kriegserlebnissen zu tun gehabt. Nun, teilweise mochte dies auch so gewesen sein, aber je länger ich darüber nachdachte, desto bescheuerter erschien mir diese Einstellung. Ich hatte für Terra Krieg geführt, ich hatte Kameraden sterben sehen, weil sich viel zu viele Menschen um viel zu wenige Ressourcen gestritten hatten. Es war ein Krieg, der sich schon Jahrzehnte zuvor zusammengebraut hatte, eine fast unumgängliche Schlachterei. Der Fortbestand der menschlichen Zivilisation hatte auf dem Spiel gestanden und dazu geführt, dass sie ihr Heil nur noch im Weltall suchen konnten. Besser gesagt auf dem Mars, der über genügend Ressourcen und über genügend Potential verfügte, um die Zukunft unserer Rasse zu sichern.
Unglücklicherweise hatte sich hier eine Gemeinschaft gebildet, die diesen Planeten nicht mit mehr anderen teilen wollte. Wir wiesen die hilfesuchenden Menschen ab. Menschen, die unsere Brüder waren. Die Terraner hätten also einen guten Grund, Marsianer zu hassen. Doch wo lag jetzt also der wahre Grund meines Hasses?
Es schien, als sei er zusammen mit dem Mentha-Programm verschwunden. Das war seltsam und irgendwie schwer zu begreifen. Und plötzlich empfand ich Scham. Ich schämte mich dafür, Marsianer zu sein. Ich schämte mich für meine Intoleranz und meinen Hass, die ich jahrelang gegen die Menschen von Terra gehegt hatte.
Ich sah, wie Washingtons Blicke die Höhle absuchten und schnell fündig wurden. Er zeigte auf einen mit Glas abgetrennten Bereich in einem Felsvorsprung. Hinter der Scheibe stand Toluca. Sein Gesichtsausdruck war entspannt, er hielt ein Trinkglas mit rotleuchtendem Inhalt in der Hand.
„Kommt, Toluca erwartet uns bereits“, sagte er und seine Worte gingen fast in der brüllendlauten Synthesizer-Musik unter. Diese wechselte ihre dumpfen Bässe jetzt zu hellklingelnden Tönen und langsam wünschte ich fast, dieser Club würde seine Musik in den zentralen Cortex-Verteiler einspeisen wie die städtischen Clubs an der Oberfläche. Das hätte mir vermutlich den Tinnitus erspart, der jetzt ein fröhliches Pfeifkonzert in meinen Gehörgängen veranstaltete.
Wir folgten Washington und schoben uns an einer Gruppe uniformierter MDA-Agenten vorbei, die ausgelassen feierten.
„Ich habe noch nie feiernde und fröhliche MDA-Agenten gesehen“, witzelte ich und schaute Sydney dabei an. Die KI lächelte.
„Das liegt wohl daran, dass es Agenten der MDA für gewöhnlich untersagt ist, ihre Freizeit in Bars und Clubs zu verbringen, um das Ansehen der Agency nicht zu beschädigen. Man fürchtete den Verlust ihrer Integrität und verbat es deshalb kurzum.“ Ich stutzte.
„Wirklich? Das wusste ich nicht“, gab ich unumwunden zu. „Dann können wir ja froh sein, dass wir nur für den MSS arbeiten.“ Sydney schüttelte den Kopf.
„Gearbeitet haben“, korrigierte sie. „Ich bezweifele, dass wir uns noch als Angehörige des MSS bezeichnen können.“ Ich neigte den Kopf zur Seite.
„Was sind wir Ihrer Meinung denn? Im Grunde hat sich doch nichts geändert.“
„Wir unterstehen nicht mehr dem Protektorats-Programm. Das bedeutet, wir handeln auch nicht mehr im Sinne des MSS. Wir befinden uns in einem illegalen Club, der voll ist mit gesuchten Personen. Ich habe in der kurzen Zeit unserer Anwesenheit hier sechsundzwanzig aktenkundige Straftäter ausgemacht, siebenundzwanzig strafrechtlich Gesuchte und neun ehemalige Insassen verschiedener Haftanstalten. Dreiviertel der hier anwesenden Personen haben also gegen irgendwelche Gesetze oder gar gegen Dekrete verstoßen. Dies hier ist der zentrale Treffpunkt des Widerstandes, also gehe ich davon aus, dass ein Großteil dieser Personen hier Red Stone angehören. Und wenn ich die Ereignisse richtig deute, gehören wir nun ebenfalls zum Widerstand. Zusammengefasst widerspricht diese Tatsache unserem Status als Angehörige des Sicherheitsdienstes, da der MSS keine Gesetzbrecher beschäftigt.“
Ich kniff meine Lippen zusammen. Sydney hatte mit ihrer maschinentypischen Analyse Recht. Zum Zeitpunkt unserer Befreiung vom Mentha-Programm hatten wir aufgehört, im Dienste des protektoratstreuen MSS
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