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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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erinnern, dass das früher so war.«
    »Die Kerzen sollen an die Soldaten erinnern, die noch in russischer Kriegsgefangenschaft sind. Viele Frauen wissen ja nicht einmal, ob ihre Männer, Väter oder Brüder gefallen oder im Kriegsgefangenenlager sind.«
    Es fuhren kaum Autos, nur die Taxis für Amerikaner und die ständig bimmelnden Trambahnen waren unterwegs. In den Pfützen spiegelte sich das matte Licht der Straßenlaternen. Ein kräftiger Draht, von dem dürftige Tannenzweige und weiße Pompons aus Watte herabhingen, die wie kleine Schneekugeln wirkten, war über die Straße gespannt worden. Ein älterer, wieder erstaunlich gut genährter Mann in einer regenschmutzigen hellen Hose, mit grüner Pudelmütze und einem großen Bauchladen bot Brezeln an. In der Hand hielt er einen Besen, auf dem er ein Pappschild mit der verlockenden Aufschrift »Haddekuche und Stutzweck* in Vorkriegsqualität« montiert hatte. Ein dürrer junger Mann, eingehüllt in eine graue, durchgeweichte Decke, mit tropfnassem Hut und bekümmertem Gesicht mühte sich ab, Zeitungen zu verkaufen, die den Regen ebenso schlecht überstanden hatten wie er.
    * Haddekuche ist ein hartes Keksgebäck, Stutzweck, ein Hefegebäck mit zwei Köpfen, wird nur an Silvester gegessen.
    »Guck mal, der hat die Abendpost«, sagte Fanny. »Die erkenne ich schon von Weitem, die lese ich so gern. Schon wegen der vielen Bilder und kurzen Sätze. Und wegen der Witze. Die sind manchmal richtig gut. Aber Großmutter darf’s nicht wissen. Zeitungen, die auf der Straße verkauft werden, hält sie für unfein und unter ihrem Niveau.«
    »Dieselbe Geschichte wie mit den Christbaumkugeln. Das wird immer so weitergehen. Bis in die Ewigkeit. Die, die geliebt werden, haben nichts zu lachen.«
    Der Hauptbahnhof, im Krieg so ins Mark getroffen, dass Frankfurter, die sein Sterben nicht selbst erlebt hatten, ihn bei ihrer Rückkehr nicht mehr erkannten, war schon lange von seinen Trümmern befreit, doch von seinen Wunden hatte er sich nicht erholt. Das einstige Prachtstück, Symbol für Reichtum und Bürgerstolz, wirkte bemitleidenswert ärmlich und kleinstädtisch. An dem kleinen, mit farblosen Holzkugeln geschmückten Weihnachtsbaum, der den düsteren Vorplatz beleben sollte, flankierten zwei kleine Mädchen in schäbigen Mänteln eine Mutter mit Kopftuch und Rucksack. Nicht weit von dem Baum glühte Kohle in einem wackeligen Öfchen aus Wehrmachtzeiten. Zwei junge Kriegsversehrte in abgenutzten Militärmänteln wärmten ihre Hände. Ihre Krücken lagen auf dem Boden, daneben eine Feldflasche und eine Bratpfanne ohne Stiel.
    »Ist weit gekommen, unsere stolze alte Freie Reichsstadt«, murmelte Don Juan. »Und mit dem Dank des Vaterlands hat es wohl auch nicht geklappt.«
    »Was hast du gesagt?«
    »Nichts, was ein Mann sagen sollte, der seit seiner Auswanderung davon geträumt hat, noch einmal in seinem Leben Mozarts Sarastro ›In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht‹ singen zu hören. ›Die Zauberflöte‹ war mein allererstes Opernerlebnis.«
    »Großmutter hat mir erzählt, die Nazis haben den berühmten Frankfurter Sänger Hans Erl gezwungen, das Lied in der Festhalle zu singen, wo sie die Juden zusammengepfercht hatten, die deportiert werden sollten. Mein Großvater war dabei, aber damals ist er noch zurückgekommen.«
    »Daran werde ich mich hier nie gewöhnen. Jedes Wort kann zum Bajonett werden, das man dem anderen ins Herz sticht. Kannst du dich denn noch an deinen Großvater erinnern? Du warst doch damals noch ein Kind.«
    »Ganz genau kann ich mich erinnern. Ich könnte ihn malen. Wenn ich malen könnte.«
    Unmittelbar vor dem Bahnhofsgebäude stand eine von den Bretterbuden, wie es sie in der ganzen Stadt gab. Obwohl es jeden Monat neue Läden gab, wurden in den Buden noch Geschirr und Töpfe verkauft, manche boten hölzerne Kochlöffel, Besenstiele, Holzbrettchen und Spielzeug an und einige wenige sogar Kleidung und Schuhe mit Gummisohlen. In den für Frankfurt typischen Wasserhäuschen, die als Erste wiederhergestellt worden waren, gab es Getränke, Zeitungen, Zigaretten und den täglichen Nachbarschwatz.
    Die Bude am Frankfurter Hauptbahnhof war erst vor Kurzem eröffnet worden. Sie war größer als die übrigen, weiß gestrichen, innen blitzsauber, nannte sich »Walters Wurstparadies« und war laut Mundpropaganda und den häufig erscheinenden Berichten in den Zeitungen allzeit einen Umweg wert. Ein breites, gestrichenes Holzbrett, das als Theke

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