Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
Luft. »Lucy, ich weiß, dass Sie einen schlimmen Verlust erlitten haben …«
Bei diesen Worten änderte sich ihr Gesichtsausdruck erneut. Sie sah so wütend aus, dass ich hastig weiterredete. »Es tut mir aufrichtig leid um … um Ihre gegenwärtige Situation. Ich hoffe, dass wir trotzdem Freundinnen werden können und dass ich imstande bin, Ihnen ein wenig Trost und Unterstützung zu geben. Ich bin hergekommen, um Ihnen eine Gesellschafterin zu sein, das ist alles. Ich habe keine Ausbildung als Pflegerin und gewiss nicht die Absicht, Ihre Aufseherin zu spielen! Das ist nicht der Grund, aus dem ich hier bin. Bitte glauben Sie mir.«
Ich fragte mich, während ich diese Worte sprach, ob Lucy jemals eine richtige Freundin besessen hatte oder ob die bloße Erwähnung des Wortes Freundschaft sie befremdete. Wie dem auch sein mochte, meine Worte hinterließen wenig Eindruck.
»Er ist hergekommen, um mich zu beobachten«, wiederholte sie ungeduldig, als wäre ich ein besonders begriffsstutziger Mensch.
»Nicht Sie, Lucy, sondern die allgemeine Situation, und zwar im Auftrag Ihres Onkels«, protestierte ich. »Er hat es mir gesagt. Ihr Onkel kann nicht selbst kommen. Er möchte lediglich, dass Lefebre ihm erzählt, wie Sie zurechtkommen, und wahrscheinlich auch, dass er ihm berichtet, wie geeignet ich mich als Ihre Gesellschafterin erweise. Der Doktor hat mir insbesondere gesagt, dass er nicht gekommen ist, um Sie in irgendeiner Weise zu behandeln.«
Ich versuchte zuversichtlich zu klingen, doch in mir waren Zweifel aufgestiegen. Sie war sich so sicher, dass ich eine Komplizin Lefebres war. Konnte es sein, dass Ben Recht gehabt hatte? In mir stieg eine Ahnung auf, dass ich auf die eine oder andere Weise ausgetrickst worden war.
Sie fauchte aufgebracht und tat mein Argument ab, indem sie wütend den Kopf schüttelte. »Er erzählt Lügen!«, sagte sie, als wäre dies eine Feststellung jenseits sämtlicher Zweifel.
»Ich aber nicht!«, entgegnete ich genauso scharf.
Vielleicht drang das auf eine Weise zu ihr durch, wie es meine vorherigen vernünftigen Worte nicht vermocht hatten. »Woher weiß ich,dass Sie die Wahrheit sagen und nicht in Wirklichkeit seine Assistentin sind?« Sie suchte in meinem Gesicht nach der Wahrheit.
Das ärgerte mich erst recht, und ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn sie es spürte. »Das ist eine Beleidigung!«, schnarrte ich. »Ich bin nicht unehrlich, und ich bin nicht mit einem heimlichen Auftrag hergekommen! Sie werden feststellen, dass ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halte, manchmal vielleicht sogar dann, wenn es klüger wäre zu schweigen. Wie dem auch sein mag, eines bin ich ganz und gar nicht, nämlich verschlagen.«
Sie schien unschlüssig. Ihre Wangen liefen rot an. »Es … es tut mir leid«, murmelte sie schließlich. »Aber wenn Sie diesem Mann tatsächlich heute zum ersten Mal begegnet sind …« Sie zögerte, wartete auf meine erneute Zusicherung, doch ihre Augen waren nicht mehr feindselig, nur noch ängstlich.
»Ganz bestimmt!«, bestätigte ich. »Ich hatte keine Ahnung, dass er existierte, ganz zu schweigen davon, dass er ein Gast im Haus sein würde und auf dem Weg hierher. Ich bin zufällig im Zug in das gleiche Abteil gestiegen, und das nur, weil das Damenabteil bereits voll war. Ich habe im Brief von Miss Roche gelesen, und er hat es gesehen und die Handschrift wiedererkannt. Er hat sich mir vorgestellt. Ich war höchst überrascht, glauben Sie mir!«
»Nun dann …«, sagte Lucy. »Dann konnten Sie wohl nicht wissen, was für eine Sorte Arzt er ist.«
Ein Erschauern durchlief mich, als hätte ein kalter Lufthauch meinen Nacken gestreift. Vielleicht war es nur der Zug vom offenen Fenster. »Nein«, gestand ich. »Das hat er nicht gesagt. Ich habe ihm erzählt, dass mein verstorbener Vater Arzt gewesen ist, doch er hat mir nichts über seine eigene Praxis erzählt. Er scheint erfolgreich zu sein.«
Sie stieß ein bitteres Bellen von Gelächter aus. »Erfolgreich, in der Tat! Unsere Familie handelt mit Tee und Seide. Dr. Lefebre handelt mit Irrsinn. Er ist ein Nervenarzt.«
Ich stieß ein Ächzen aus. »Sind Sie sicher?«
»Oh ja, das bin ich. Er ist hergekommen, um zu beurteilen, ob ich verrückt bin.«
Die Ladys Roche aßen um sieben zu Abend. Ich war zutiefst erschüttert von dem, was Lucy mir anvertraut hatte, doch jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken, und erst recht nicht, um einen Brief an Ben Ross anzufangen, in
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