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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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abgewendet.
    Abgesehen davon ist er aber ziemlich sympathisch. Er hat auf der ganzen linken Wange eine Verbrennung, und sein zahmes Leguanchen sitzt auf seiner rechten Schulter, doch sieht er ganz anders aus, als Dori nach Alfredos Beschreibung erwartet hat.
    Das Glas Tee kommt nach einer neungängigen Mahlzeit, die er für sie zubereitet und auch selbst serviert hat. Bereits nach demersten Gang wollte Dori fragen, was ihm unter den Nägeln brannte, doch Alfredo hatte ihm mit auf die Lippen gelegtem Finger bedeutet, dass er schweigen solle. Schade, dass der blasierte Chefkoch des Gourmetkoch-Workshops nicht hier war, zu dem Roni ihn geschleppt hatte, dachte sich Dori beim Essen. Er hätte von El Loco etwas über die Verwendung von natürlichen Zutaten und über Bescheidenheit lernen können. Gurkensalat mit Lamajoghurt, Lauchsuppe, Fisch in scharfer Sauce, Ente mit Honig, Fruchteis – alles wurde auf nicht besonders großen Tellern und ohne jeden Firlefanz serviert.
    Woher wusstest du denn, dass ich der Sohn … von meinem Vater bin?, fragt er und nimmt noch einen Schluck Tee. Ach, ich denke, ein Blick auf einen Menschen reicht aus, sagt El Loco und zündet sich und Alfredo eine Zigarre an, wenn der Blick gut ist, wenn er konzentriert ist, weißt du sofort alles, was du wissen musst. Du zum Beispiel isst deine Artischocke lieber mit Mayonnaise als mit Salzwasser, bist mehr für Basketball als für Fußball, bevorzugst starke, unabhängige Frauen, und du hast schon lange nicht mehr so richtig gefickt. Stimmt’s oder hab ich Recht?
    Bevor Dori antworten kann (schnell überschlagen sind El Loco drei Treffer und einer mitten ins Schwarze gelungen), spielt eine Glocke die ersten Noten von Riders on the Storm von den Doors . Das Leguanchen reckt den Kopf, und El Loco entschuldigt sich bei ihnen, potenzielle Gäste seien am Tor, und er müsse nachschauen, ob sie passen oder nicht.
    Nach einer Minute kommt er zurück. Das Tor bleibt verschlossen.
    Dein Vater ist ein sehr besonderer Mensch, sagt er zu Dori. Er stand hier draußen vor dem Tor, mit seiner Rückenlehne … wie heißt sie noch …?
    Doktor Gav?
    Ja, genau. Er stand hier draußen, und ich hab sofort kapiert, dass er zum Club gehört.
    Zu welchem Club?, fragt Dori, versteht nicht. Was für ein Club?, grübelt er, die einzigen Clubs, in denen mein Vater Mitglied ist,sind die Clubs bevorzugter Kunden bei Banken und Kreditkartengesellschaften.
    Ah, sagt El Loco und klopft sich an seine rote Bandana , das hab ich vergessen. Er hat mir gesagt, dass seine Kinder wirklich von allem nichts wissen.
    *
    Nachts, unter seinem Moskitonetz, versucht Dori, wie ein Archäologe in seiner Erinnerung zu graben und zumindest einen Fund zu machen, der die Geschichte stützt, die El Loco nach dem Abendessen vor ihm ausgebreitet hat. Da ist die wiederkehrende Szene, wie Vater sich an Jom Kippur einschloss, und dann diese Sache mit der Uhr, aber es kann doch nicht sein, es kann einfach nicht sein, dass das alles ist. Udis Vater ist auf den Golanhöhen verletzt worden und jede Nacht schreiend aus Albträumen aufgewacht. Sein Vater dagegen hat immer prima und tief geschlafen, sogar die Laubbläser der Stadtreinigung am Freitagmorgen haben ihn nicht wach gekriegt. Okay, dann waren es nicht die Nächte. Aber etwas muss da doch gewesen sein. Irgendein Zeichen. Wie kann man so eine Sache so viele Jahre vor allen geheim halten?
    Die ganze Nacht über lässt Dori Szenen aus der Familiengeschichte vor seinem inneren Auge ablaufen. Immer mehr Erinnerungen wehen aus seinem Kopf durch das Moskitonetz hinaus in die Nacht, und er wartet, dass endlich eine hängen bleibt.
    Doch erst in der nächsten Nacht, um fünf Uhr früh, genauer gesagt, als er das Muhen einer früh aufgewachten Kuh hört, ist der Moment gekommen.
    *
    Fünf Familien, Kollegen von Mutters Arbeit, auf einem Ausflug in den Sinai. Sie hielten in Jodvata an, um Pause zu machen. Lital, die Tochter von Aschkenasi, trank aus einem Tetrapack Mokka undschaute ihn dabei an. So zumindest schien es ihm. Ein paar Tropfen rollten aus ihrem Mundwinkel und den Hals hinunter. Man sah sie kaum, denn auch ihre Haut war mokkafarben, sie war schon ein junges Mädchen, älter als er – aber auf seinen Hoden wuchsen immerhin schon ein paar Haare, und er glaubte, diesmal würde es passieren. Schon seit einigen Jahren herrschte bei Familienpicknicks diese angenehme Verlegenheit zwischen ihnen beiden. Sein Vater verspottete ihn, natürlich, er zog diese

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