Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
gereinigt“, sagte sie und schloss ihre Augen.
„Sollte höchstens zwanzig Minuten gebraucht haben.“
„Gut.“
„Möchtest du etwas zu essen?“
„Lass uns sehen, wie weit wir mit einem Müsliriegel kommen.“
„Nat—“
„Wenn wir für die Reise nicht genügend Verpflegungspakete haben, sind wir aufgeschmissen.“
„Ich vermute mal, dass wir uns während der nächsten Tage daran gewöhnen werden, weniger zu essen.“
„Ganz genau. Ich bin lieber hin und wieder mal etwas hungrig, als vier Tage hintereinander zu hungern.“
„Da ist was dran“, gab er zu und ließ das Thema auf sich beruhen.
Nach einer wohlverdienten Erholung liefen Leonard und Natalia das Tal hinunter und ließen sich dabei von seiner üppig bewachsenen Umgebung antreiben. Der Pfad traf ab und zu auf einen Fluss. Sie machten kurze Pausen, tranken etwas Wasser und füllten ihre Flaschen im Bach wieder auf.
Ungefähr eine Stunde nachdem sie ihren Abstieg begonnen hatten, kamen sie zu einem Hügel, der auf eine Lichtung führte. Leonard blieb stehen und packte Natalia am Arm. In der Ferne, vielleicht drei Kilometer vor ihnen, sah er es – ein grau–brauner Abschnitt, der senkrecht zu dem Pfad verlief, auf dem sie sich im Moment befanden. Es konnte nichts anderes sein. Sie hatten es geschafft. Vor ihnen lag die I–70.
Je mehr sie sich der Autobahn näherten, desto achtsamer wurde Leonard. Er horchte nach Fahrzeugen, Hubschraubern und Stimmen, in dem Tal herrschte jedoch unheimliche Stille. Am frühen Abend kamen sie auf eine gepflasterte Straße und gingen von dort aus direkt auf die Autobahn zu.
Die Straße war in einem schrecklichen Zustand. Die gesamte Autobahn war übersät mit riesigen Schlaglöchern, die durch Vernachlässigung und schlechtes Wetter entstanden waren. Hartnäckige Sträucher kämpften sich ihren Weg durch die Risse im Asphalt. Die Durchfahrtsstraße schien völlig verlassen, als ob schon seit einigen Jahren kein Fahrzeug mehr auf ihr gefahren wäre.
Leonard sah auf den Kompass, um seine Vermutung zu bestätigen, dass sie sich Richtung Westen bewegten, wenn sie nun nach rechts abbogen.
Natalia konnte es nicht besser wissen, aber Leonard kam der flotte Spaziergang entlang der I–70 irgendwie unwirklich vor. Der sonst so chaotische Durchgang war nun frei von jeglichen Geräuschen der Zivilisation. Natalia trat mit dem linken Fuß geistesabwesend einen Stein. Er kullerte über die Autobahn und prallte ungefähr dreieinhalb Meter entfernt an einem hervorstehenden Riss in der Straße ab.
Als die Dämmerung einbrach, blieben sie kurz stehen und holten ihre Kapuzenpullis heraus. Sie würden sie bald brauchen.
Sie bogen sorglos um die Kurve und Leonard überlegte, ob sie für den Abend Rast machen sollten. Da sie offensichtlich nicht verfolgt wurden, schien es sicherer, am Tag zu reisen. Seine Tochter hatte nicht unrecht damit, sich Sorgen über Raubtiere im Wald zu machen.
Natalia blieb plötzlich stehen und flüsterte: „Was ist das?“ In ihrer Stimme war sowohl Neugierde als auch Angst zu erkennen.
In der Ferne zeichnete sich eine Betonkonstruktion im Berghang ab. Sie ähnelte ein wenig den hässlichen Verwaltungsgebäuden an der Klinik. Leonards Herzschlag beschleunigte sich, er packte Natalia und zog sie von der Straße herunter. Nachdem er das Gebäude einige Zeit begutachtet hatte, hätte er beinahe losgelacht.
„Eisenhower.“
„Was?“
„Das ist der Eisenhower–Tunnel.“
Natalia nickte und konnte ihre Augen nicht von der Konstruktion lassen, während sie sich ihr näherten und das silberne Licht der Abenddämmerung mit jedem Schritt mehr verblasste.
Leonard runzelte die Stirn. Alles, woran sie bisher vorbeigekommen waren, befand sich in einem baufälligen Zustand und ließ auf vielleicht jahrelange Vernachlässigung schließen. Der Eisenhower–Tunnel erstreckte sich über mehr als zweieinhalb Kilometer durch den Berg. Wenn man den schlechten Zustand der Umgebung bedachte, würde der Tunnel dann sicher sein? Dennoch, die Alternative über den Berg zu klettern, würde ihre Reise erheblich in die Länge ziehen und ihre ohnehin schon schwindenden Energien und Vorräte weiter schrumpfen lassen.
Die Sonne ging unter und verschwand hinter den Bergen, sodass die Temperatur drastisch absank, während die Dunkelheit rasch um sich griff. Leonard zog seinen Kapuzenpulli an und bestand darauf, dass Natalia es ihm gleichtat.
„Wird es da drin kälter sein?“, fragte sie.
„Möglich, aber wir
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