Neuromancer-Trilogie
der Stadtarchitektur, in ihrer spiegelnden Brille der Londoner Stilmischmasch, jede Periode von der wirtschaftlichen Situation, durch Feuer oder Krieg zu Ausschuss gemacht.
Kumiko, die schon dreimal rasch hintereinander und offenbar willkürlich umgestiegen und dementsprechend verwirrt war, ließ auch noch eine Reihe von Taxifahrten über sich ergehen. Sie sprangen aus einem Wagen, liefen in das nächste Kaufhaus, marschierten durch den erstbesten Ausgang in eine andere Straße und nahmen ein weiteres Taxi. »Harrods«, sagte Sally einmal, als sie in flottem Tempo durch eine reich verzierte Halle mit gekachelten Wänden und Marmorsäulen liefen. Kumiko bestaunte dicke rote Braten und Haxen auf gestaffelten Marmortheken und nahm an, sie wären aus Plastik. Dann waren sie schon wieder draußen, und Sally winkte
das nächste Taxi heran. »Covent Garden«, sagte sie zu dem Fahrer.
»Entschuldige, Sally. Was machen wir eigentlich?«
»Wir verschwinden.«
Sally trank heißen Brandy in einem winzigen Café unter dem schneebedeckten Glasdach der Piazza. Kumiko trank Kakao.
»Sind wir jetzt verschwunden, Sally?«
»Ja. Hoff ich zumindest.« Sie sah heute älter aus, fand Kumiko; Müdigkeit oder Nervosität hatte Falten um ihren Mund gegraben.
»Sally, was tust du überhaupt? Dein Freund hat gefragt, ob du noch im Ruhestand bist …«
»Ich bin Geschäftsfrau.«
»Und mein Vater ist ein Geschäftsmann?«
»Ja, dein Vater ist Geschäftsmann, Schätzchen. Nein, nicht so wie der. Ich bin ein Indie, eine Unabhängige. Ich investiere hauptsächlich.«
»In was investierst du?«
»In andere Indies.« Sie zuckte mit den Achseln. »Neugierig heute, hm?« Sie nahm einen Schluck von ihrem Brandy.
»Du hast mir geraten, für mich selbst zu spionieren.«
»Guter Rat. Aber das muss man behutsam angehen.«
»Lebst du hier, Sally, in London?«
»Bin viel unterwegs.«
»Ist Swain auch ein ›Indie‹?«
»Jedenfalls hält er sich für einen. Er arbeitet mit Beziehungen, buckelt vor den richtigen Leuten; das muss man hier tun, um Geschäfte zu machen, aber mir geht’s allmählich auf die Nerven.« Sie kippte den restlichen Brandy hinunter und leckte sich die Lippen.
Kumiko erschauerte.
»Vor Swain brauchst du keine Angst zu haben. Yanaka könnte ihn zum Frühstück verspeisen.«
»Nein. Ich dachte an die Jungs in der U-Bahn. Sie waren so dünn …«
»Die Draculas.«
»Eine Bande?«
»Bosozoku«, sagte Sally mit ordentlicher Aussprache. »›Nomadenstamm‹? Jedenfalls so’ne Art Stamm.« Es war nicht das richtige Wort, aber Kumiko glaubte, den Unterschied zu verstehen. »Sie sind dünn, weil sie arm sind.« Sally gab dem Kellner ein Zeichen und bestellte einen zweiten Brandy.
»Sally«, sagte Kumiko, »als wir hierhergekommen sind, der Weg, den wir genommen haben, die Züge und Taxis, war das, um sicherzustellen, dass man uns nicht folgt?«
»Nichts ist jemals sicher.«
»Aber als wir zu Tick gegangen sind, hast du keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Da hätte man uns leicht folgen können. Du heuerst Tick an, damit er Swain bespitzelt, triffst aber keine Vorsichtsmaßnahmen. Du bringst mich hierher und triffst viele Vorsichtsmaßnahmen. Warum?«
Der Kellner stellte ein dampfendes Glas vor Sally ab. »Du bist’n schlaues Kind, Schätzchen, was?« Sie beugte sich vor und inhalierte die Brandydämpfe. »Es ist nun mal so, okay? Mit Tick will ich vielleicht bloß für’n bisschen Action sorgen.«
»Aber Tick hat Angst, dass Swain ihn ertappen könnte.«
»Swain rührt ihn nicht an, wenn er merkt, dass er für mich arbeitet.«
»Wieso nicht?«
»Weil er weiß, dass ich ihn sonst vielleicht umbringen würde.« Sie hob ihr Glas und sah plötzlich viel fröhlicher aus.
»Swain umbringen?«
»Genau.« Sie trank.
»Und warum warst du dann heute so vorsichtig?« »Weil’s manchmal guttut, alles abzuschütteln und abzuhauen. Wahrscheinlich haben wir’s nicht geschafft. Aber vielleicht doch. Kann sein, dass niemand, aber auch gar niemand weiß, wo wir sind. Tolles Gefühl, hm? Du könntest präpariert sein, haste daran schon mal gedacht? Vielleicht hat dir dein Dad, der Yakuza-Kriegsherr,’ne kleine Wanze eingepflanzt, damit er seine Tochter immer im Auge behalten kann. Du hast so hübsche kleine Zähne, vielleicht hat Daddys Zahnarzt da’n bisschen Hardware drin untergebracht, als du gerade mit einem Stim zugange warst. Gehst du zum Zahnarzt?«
»Ja.«
»Ziehst du dir Stims rein, während er
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