Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Sitzbank lag ein burgunderrotes Kissen mit weichen holzkohlefarbenen Troddeln, und die Fenster zierten farblich dazu passende Vorhänge. Ich hatte noch nie in einem so noblen Transportmittel gese s sen, und obwohl nur mein Vater mich begleitete, saß ich ganz steif und aufrecht auf meinem Sitz.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, um das G e spann in Bewegung z u setzen, und es gehorchte ihm de r art kraftvoll, dass ich vor Schreck aus meinem Sitz hoc h fuhr. Mein Vater gestattete sich ein leises Schmunzeln, und ich grinste zurück. »Sei nicht so steif und ang e spannt, Sohn«, riet er mir ruhig, als wir losfuhren. »Zeig die Aufgewecktheit und Forschheit eines feinen Geistes, aber lass Oberst Stiet nicht denken, dass die Familie Bu r velle ihm eine nervöse Nellie geschickt hat.«
»Jawohl, Sir«, antwortete ich und zwang mich dazu, mich in den Sitz zurücksinken zu lassen. Die Kutsche rollte donnernd über die Kopfsteinpflasterstraßen von Alt-Thares. Zu jeder anderen Zeit wäre ich von den S e henswürdigkeiten, die ich am Fenster vorbeifliegen sah, fasziniert gewesen, aber heute vermochten sie kaum me i ne Aufmerksamkeit zu fesseln. Zuerst kamen wir an a n deren prächtigen Häusern mit gepflegten Vorgärten vo r bei, die sich nicht sehr von der Domäne meines Vaters unterschieden. Jenseits der Mauern und Tore erhaschte ich immer wieder einen kurzen Blick auf hohe Eiche n bäume und sauber geschnittene, sattgrüne Rasen, auf Kiespfade und Standbilder. Danach wanden wir uns hi n unter in die Geschäftsbezirke, und die Bäume und Rase n flächen verschwanden. Gewerbliche Etablissements standen Wand an Wand, und darüber befanden sich Wohnungen. Wir hielten bei dem Schuster, den mein Onkel empfohlen hatte. Er maß schnell meine Füße aus und versprach, meine neuen Stiefel würden binnen zwei Wochen zu meiner Unterkunft an der Akademie geliefert werden.
Dann fuhren wir weiter. Der Morgen war jetzt weiter vorgerückt, und es waren mehr Leute auf den Beinen. Karren voller Waren und eilige Lehrlinge verstopften die Straßen und hemmten die Fahrt unserer Kutsche. In einer sehr belebten Straße warnte uns eine laut klingende Glocke vor dem Nahen einer von einem kräftigen G e spann gezogenen Straßenbahn. Frauen mit extravaganten Federhüten auf dem Kopf und Männer in leichten Mä n teln schauten aus den offenen Fenstern der Bahn, wä h rend sie die gemütliche Fahrt zur Stätte ihres jeweiligen Tagwerks genossen. Wohlstand herrschte in diesem Teil der Stadt, und ich hegte den Verdacht, dass viele der Leute, die ich durch die Straßen schlendern sah, dies nur taten, um zu zeigen, dass sie schöne Kleider hatten und die Muße, sie spazieren zu tragen.
Allmählich ließen wir das Herz der Stadt hinter uns. Die Straßen wurden enger, die Geschäfte kleiner. Auch die Häuser veränderten sich: Sahen sie zuerst nur ung e pflegt und verwahrlost aus, so präsentierten sie s ich schließlich heruntergekommen und baufällig. Der Ku t scher schüttelte die Zügel, und wir fuhren schneller durch laute Straßen, vorbei an billigen Schänken und Häusern, wo sich grellbunt angemalte Huren in den offenen Fe n stern rekelten. Ich sah einen blinden Jungen, der an einer Straßenecke sang. Zu seinen Füßen wartete ein bleche r ner Teller darauf, mit Münzen gefüllt zu werden. An e i ner anderen Ecke predigte lauthals ein Wanderprediger; er rief die verirrten Seelen dieses Elendsviertels dazu auf, sich zu besinnen und ihren Geist und ihr Herz der näc h sten Welt zuzuwenden. Die Kutsche rumpelte an ihm vorbei, und seine Stimme verhallte hinter uns. Irgendwo läutete eine Glocke, und dann stimmte eine andere mit ein, und gemeinsam riefen sie zum Morgengebet. Mein Vater und ich neigten schweigend den Kopf.
Schließlich bogen wir in die Flussuferstraße ein. Sie war breiter und in einem besseren Zustand, und doch w a ren wir auch hier wieder gezwungen, unsere Fahrt zu verlangsamen, denn auch auf ihr strömte Verkehr aller erdenklichen Art. Ich sah Wagen voller Baumstämme, die vom Kai kamen, und riesige Ladungen frisch g e schlagenen Bauholzes. Der Wagen eines fahrenden Händlers, der eine ganze Reihe von Ponys im Schlepptau hatte, die er zum Verkauf feilbot, reihte sich hinter uns ein. Wir selbst folgten dem Karren eines Kohlenhändlers.
»Ist es noch weit, Vater?«, fragte ich, als es mir vo r zukommen begann, als wären an diesem einen Morgen mehrere Tage vergangen.
»Noch ein gutes Stück. Als beschlossen wurde, eine
Weitere Kostenlose Bücher