Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
konzentrieren, aber wir konnten alle die wachsende Spannung zwischen Trist und Spink spüren, die wie ein heraufziehendes G e witter in der Luft hing. Trist hatte mehrmals an jenem Tag mit leuchtenden Augen von der Kutsche gesprochen, die ihn früh am nächsten Morgen abholen würde, und von den Ferientagen, die er mit seinem Vater und seinem älteren Bruder verbringen durfte. Er hatte von den Di n nerpartys geschwärmt, zu denen sie eingeladen seien, von einer Theateraufführung, die sie besuchen würden, und von den wohlgeborenen Mädchen, die er auf seinen verschiedenen Lustpartien begleiten würde. Wir hatten ihn allesamt darum beneidet, aber Spink war derjenige, dem Trists Geprahle am meisten zugesetzt hatte.
Dann fing Spink an, einige Fehler in seinen Berec h nungen auszuradieren. Er tat dies so heftig, dass der ga n ze Tisch wackelte. Mehrere Köpfe h oben sich, um ihn wütend anzuschauen, aber er war mit solcher Verbisse n heit in seine Arbeit vertieft, dass er das gar nicht mitb e kam. Er seufzte, als er mit seinen Berechnungen wieder von vorn anfing, und als Gord sich zu ihm herüberbeu g te, um ihn auf einen erneuten Fehler hinzuweisen, knurrte Trist: »Diakon, kannst du deinen Katechismus nicht w o anders unterrichten? Dein Altardiener macht ziemlichen Lärm.«
Die Bemerkung war nicht schlimmer als seine übl i chen Frotzeleien, außer dass er diesmal Spink mit in se i nen Spott einbezogen hatte. Sie brachte ihm einen allg e meinen Lacher von uns ein, die wir am Tisch saßen, und einen Moment lang schien es, als hätte er damit die Spannung, die sich aufgebaut hatte, entschärft. Selbst Gord zuckte bloß mit den Schultern und sagte leise: »Tut mir Leid wegen des Krachs.«
Da sagte Spink mit kaum unterdrückter Wut in der Stimme: »Ich bin kein Altardiener. Gord ist kein Diakon. Dies ist kein Katechismus. Und wir haben das gleiche Recht, an diesem Tisch zu lernen, wie du, Kadett Trist. Wenn dir das nicht passt, kannst du ja woandershin g e hen.«
Es war dieser letzte Satz, der das Fass zum Überlaufen brachte. Trist mühte sich selbst mit seinen Matheaufg a ben ab, und ich bin sicher, dass er genauso müde war wie wir alle. Vielleicht wünschte er sich sogar heimlich, er hätte Gord um Rat fragen können, denn der hatte seine Matheaufgaben bereits eine Stunde zuvor gewohnt schnell und genau fertiggestellt. Trist erhob sich von se i ner Bank, stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und reckte den Kopf nach vorn, sodass sein Gesicht d i rekt vor dem von Spink war. »Du möchtest also, dass ich gehe, Kadett Altardiener?«
An diesem Punkt hätte unser Studienmentor eingreifen müssen. Vielleicht vertrauten Spink und Trist darauf, dass er es tun würde. Schließlich wussten sie beide, dass eine tätliche Auseinandersetzung im Quartier mindestens mit zeitweiliger Suspendierung bestraft wurde, wenn nicht mit dem dauerhaften Ausschluss von der Akad e mie. Unser Mentor an jenem Abend war ein hochaufg e schossener, sommersprossiger Zweitjährler mit Segelo h ren und knorrigen Handgelenken, die aus den Ärmeln seiner Jacke hervorlugten. Er stand abrupt auf, und beide Streithähne erstarrten, weil sie damit rechneten, dass er sie zurückpfiff. Stattdessen sagte er: »Ich habe mein Buch vergessen!« und stürmte hastig zur Tür hinaus. Bis heute weiß ich nicht, ob er Angst davor hatte, in eine Prügelei hineingezogen zu werden, oder ob er hoffte, dass sich Trist und Spink d urch sein Hinausgehen dazu ermuntert fühlen würden, aufeinander loszugehen.
Unversehens ihres Vorgesetzten und möglichen Schlichters beraubt, starrten sie sich über den Tisch hi n weg an. Jeder wartete darauf, dass der andere den ersten Schritt machte. Spink war aufgesprungen, um wenigstens halbwegs auf gleicher Augenhöhe mit Trist zu sein, und der Unterschied zwischen den beiden hätte nicht deutl i cher zutage treten können. Trist war groß und blond, und sein Gesicht war so ebenmäßig wie das einer klassischen Statue.
Spink hingegen war klein und drahtig, und sein Körper wies immer noch eher jungenhafte Proportionen auf. Er hatte eine Stupsnase, seine Zähne waren eine Spur zu groß für seinen Mund und seine Hände etwas zu groß für seine dünnen Gelenke. Seine Uniform war nicht beso n ders fachmännisch aus einem alten, ziemlich abgetrag e nen Familienerbstück geschneidert worden, und auch das konnte man deutlich sehen. Sein Haupthaar hatte bego n nen, aus dem ihm jüngst verpassten Einheitsstoppe l schnitt
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