Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
stand da, und sein Unterkiefer mahlte; vermutlich suchte er fieberhaft nach einer bestimmten Drohung oder B e gründung, wieso Gord Ärger bekommen würde, bloß weil er nicht da war. Als ihm nichts Gescheites einfiel und wir ihn weiter anglotzten wie ä ngstliche Schafe, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Dann packte er ohne ein weiteres Wort seine restlichen Bücher und Papiere zusammen und stapfte aus dem Raum. Ke i ner von uns sagte ein Wort. Ich weiß nicht, was in den anderen vor sich ging, aber für mich war dies der M o ment, in dem ich begriff, was wir getan hatten. Durch betrügerisches Einvernehmen hatten wir diejenigen hi n ters Licht geführt, die den Befehl über uns hatten. Wir waren dabei gewesen, wie Kameraden gegen die Hau s ordnung der Akademie verstoßen hatten, und hatten es nicht gemeldet. Ich glaube, unsere kollektive Schuld si c kerte allmählich in das Bewusstsein meiner Kameraden, denn ohne ein Wort zu sagen, klappten die anderen ihre Bücher zu und legten ihre Arbeit für den Abend beiseite. Trist summte vor sich hin, ein Schmunzeln im Gesicht, als ergötze er sich an Spinks Versuch, sein Buch zu re t ten. Spink blickte ernst drein.
»Du hast gekämpft wie ein Flachländer, mit Festhalten und Klammern und Würgen und auf dem Boden Heru m wälzen. Du bist kein Gentleman!« Dieser verspätete Vorwurf kam – kaum überraschend – von Oron. Er machte ein zugleich angewidertes wie triumphierendes Gesicht, als habe er endlich einen legitimen Grund g e funden, Spink zu hassen. Ich schaute den kleinen Kade t ten an. Er blickte nicht von seinem Tintenfleck auf. Sein Buch ist ruiniert, dachte ich, und ich wusste genau, dass er kein Geld für ein neues hatte. Was für Trist ein kleines Missgeschick war, nicht mehr als ein impulsiver Streich, war für Spink eine finanzielle Katastrophe. Aber er ve r lor kein Wort darüber. Er sagte nur: »Ja. Meine Familie hatte kein Geld, um varnische Tutoren und Waffeni n struktoren für mich zu engagieren. Also lernte ich so viel ich konnte von wem ich konnte. Ich lernte Ringen und Kämpfen bei den Flachlandjungen vom Herdo-Stamm. Sie lebten am Rande unseres Besitzes, und Leutnant Geeverman sorgte dafür, dass ich von ihnen unterrichtet wurde.«
Caleb stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Käm p fen lernen von Wilden! Warum hat der Leutnant dir nicht beigebracht, wie ein Mann zu kämpfen? Oder konnte er das auch nicht?«
Spink kniff die Lippen zusammen, und auf seinem G e sicht erschienen die rötlichen Flecken, die er immer dann bekam, wenn er wütend war. Aber seine Stimme blieb ruhig, als er erwiderte: »Leutnant Geeverman war der Sohn eines Adeligen. Er konnte boxen und, ja, er hat es mir beigebracht. Aber er sagte auch, ich wäre gut ber a ten, wenn ich lernte, nach der Art der Herdos zu ringen. Es war ihm in vielen Situationen nützlich gewesen, und da es nicht so aussah, als würde ich zu einem Mann von überdurchschnittlicher Körpergröße heranwachsen, b e fand er, dass es sich als eine für mich besonders gut g e eignete Kampfesart erweisen könnte, besonders in so l chen Situationen, in denen ich meinen Gegner nur bew e gungsunfähig machen, aber nicht verletzen wollte.«
Das musste Trist in seinem Stolz tief verletzen – eine Kränkung, die er nicht auf sich sitzen lassen konnte. Er klappte sein letztes Buch zu. »Wenn du wie ein Mann gegen mich gekämpft hättest und nicht wie ein Wilder, dann wäre die Sache anders ausgegangen.«
Spink starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. Dann machte sich ein starres Lächeln auf seinem Gesicht breit. »Zweifellos. Glücklicherweise war ich in der gü n stigen Lage, meine Taktik frei wählen zu können. Und ich habe mich für die entschieden, die mir zum Sieg ve r holfen hat.« Er tippte auf ein Lehrbuch, das von der Tinte verschont geblieben war. »Kapitel zweiundzwanzig. ›Die Wahl der richtigen Strategie in unebenem Gelände.‹ Es zahlt sich manchmal aus, auf Vorrat zu lesen.«
»Du hast keine Ahnung von fairem Verhalten!«, ko n terte Trist hilflos.
»Stimmt. Aber ich habe eine Ahnung davon, was ich tun muss, um die Oberhand zu behalten«, blaffte Spink ungerührt zurück.
»Ach, lass ihn doch«, blies Oron sich auf. Er fasste Trist am Ärmel und zerrte daran. »Du könntest ebenso gegen eine Wand reden. Der begreift ja nicht einmal, was du ihm sagen willst.« Trist schüttelte ihn ab und ging hinaus. Sein Hals war gerötet. Ich glaube, Orons Worte hatten ihn noch verlegener
Weitere Kostenlose Bücher