Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
früher in die Bibliothek, noch verbrac h ten sie ihre Freizeit mit uns. Kort und Natred schienen ein unabhängiges, autarkes Duo zu sein, das keine and e ren Verbündeten brauchte. Für den Rest regierte Trist den Hühnerstall. Oron stand ihm wahrscheinlich am nächsten; zumindest sprachen alle Anzeichen dafür, dass er sich nichts sehnlicher wünschte. Er saß stets neben Trist, hing immer wie gebannt an seinen Lippen und lachte immer am lautesten über seine Witze. Caleb und Rory folgten dem goldenen Kadetten auf Schritt und Tritt. Rory kam immer noch manchmal in unsere Stube, um ein Schwätzchen mit uns zu halten, aber längst nicht mehr so oft wie früher. Und wenn wir an unserem A r beitstisch oder an unserem Tisch im Speisesaal saßen, dann immer sauber nach Fraktionen getrennt.
Wir fanden nicht heraus, wer in unsere Zimmer eing e drungen war, und ich fand auch meinen kostbaren Stein nicht wieder. Es war seltsam, dass ausgerechnet er ve r schwunden war, die kleinere Geldsumme aber, die in einer meiner Manteltaschen gesteckt hatte, nicht anget a stet war. Es sprach sich rasch herum, dass ich den Vorfall Sergeant Rufet gemeldet hatte. Einen Tag nach unserer Rückkehr wurde ich aus der Zeichenklasse g eholt. Ein Drittjährler eskortierte mich schweigend zum Verwa l tungsgebäude. Ich wurde sofort in ein Zimmer im ersten Stock geführt. Mein Begleiter klopfte an die Tür und winkte mich hinein. Mit hämmerndem Herzen betrat ich den Raum. Ich salutierte und stand stramm. Der Raum war mit dunklem Holz getäfelt, und das winterliche T a geslicht, das aus den hohen, schmalen Fenstern herei n fiel, schien mich nicht zu erreichen. In der Mitte stand ein langer Tisch, an dem sechs Männer saßen. Kadette n leutnant Tiber saß blass und am Kopf bandagiert auf der einen Seite des Tisches auf einem Stuhl mit aufrechter Lehne. Seine Haltung war sehr steif, entweder vor Ne r vosität oder aufgrund der Schmerzen, die ihm seine Ve r letzungen bereiteten. Neben ihm stand Kadett Ordo. U n ter den Männern, die an dem langen Tisch saßen, erkan n te ich Oberst Stiet und Doktor Amicas. Eine Gestalt b e wegte sich in der Nähe der Fenster, in der ich Caulder Stiet erkannte. Ich richtete meinen Salut an den Oberst. »Kadett Burvelle meldet sich wie befohlen, Sir!«, sagte ich und versuchte dabei möglichst ruhig zu klingen.
Oberst Stiet nahm kein Blatt vor den Mund und kam direkt zur Sache. »Und wenn Sie nicht erst gewartet hä t ten, bis Sie den Befehl bekommen, sich zu melden, dann hätten die Dinge bereits viel früher geklärt werden kö n nen, Kadett. Es wird sich nicht gut in Ihrer Akte machen, dass Sie erst hierher beordert werden mussten, um Ihre Aussage zu machen, statt sich sofort nach dem Vorfall freiwillig zu melden.«
Er hatte mir keine Frage gestellt, also tat ich gut daran, zu schweigen. Mein Mund war plötzlich sehr trocken, und mein Herz klopfte so laut, dass es mir in den Ohren dröhnte. Was für ein Angsthase ich doch war! Da saßen bloß ein paar Männer an einem Tisch, und ich fiel vor Schreck fast in Ohnmacht! Ich holte einmal tief Luft und riss mich zusammen.
»Nun?«, fragte der Oberst mit schneidender Stimme, so unvermittelt, dass ich zusammenfuhr.
»Sir?«
Stiet atmete tief durch die Nase ein. »Ihr Onkel, Lord Burvelle des Westens, musste sich persönlich zu mir b e mühen, um mir zu eröffnen, dass Sie nicht alles gemeldet hatten, was Sie in jener Nacht gesehen haben, als Kade t tenleutnant Tiber verletzt wurde. Sie sind jetzt hier, um uns mit ihren eigenen Worten vollständig und exakt zu schildern, was Sie in jener Nacht gesehen haben. Spr e chen Sie.«
Ich holte tief Atem und wünschte mir sehnlichst einen Schluck Wasser.
»Ich war auf dem Rückweg vom Krankenrevier zu meinem Wohnheim, Haus Carneston, als ich Caulder Stiet auf uns zurennen sah …«
»Halt, Kadett! Ich denke, wir alle würden gern erfa h ren, warum Sie sich zu so später Stunde außerhalb Ihres Wohnheimes draußen auf dem Campus herumtrieben.« Stiets Stimme war schneidend, als hätte ich versucht, irgendeine Missetat zu verbergen.
»Jawohl, Sir«, sagte ich leise. Ich begann erneut. »Caulder Stiet kam nach Haus Carneston, um Kadett K e ster und mich zum Krankenrevier zu rufen, wo wir K a dett Lading abholen sollten.«
Ich hielt inne, um zu sehen, wie meine Worte ank a men. Der Oberst nickte mir unwirsch zu, und ich fuhr fort. Ich versuchte, meine Geschichte in möglichst einf a chen Worten zu erzählen, ohne jedoch
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