Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
beschrieben seltsame Zeichen in der Luft. Traumworte hallten in meinem Kopf wider. ›Morgen wirst du eine Prüfung a b legen. Du wirst sie bestehen und das Zeichen machen, und dann wirst du für das Volk kämpfen.‹ Ich ergriff meine rechte Hand mit der linken und rieb mir die Fi n ger. »Bloß ein Krampf«, sagte ich zu Rory.
»Ach so.«
Der alte Fleck im Innern des Käfigs nickte mir zu. Dann tat er einen Schritt rückwärts. Er schlug sich mit der Hand gegen die Brust, und da er sie zu einem Tric h ter geformt hatte, tönte das Klopfen lauter, als ich erwa r tet hatte. Als das Geräusch erscholl, hörte das Gerangel auf dem Käfigboden sofort auf. Beide Kontrahenten e r hoben sich vom Boden.
Das Männchen führte sich dabei hastig die Hand zum Mund, und ich sah, wie seine Zunge das Klümpchen Kautabak erhaschte und in die Wangentasche schob.
Der alte Fleck sagte irgendetwas zu ihnen. Das Mä d chen reagierte ablehnend, fast wütend. Der alte Mann wiederholte seine Worte. Und obwohl er weder seine Stimme hob noch eindringlicher klang als beim ersten Mal, wichen die drei anderen Fleck fast ängstlich vor ihm zurück. Sodann reckte das Mädchen sich hoch und kü n digte laut an: »Ich spreche, ich spreche. Ruhe! Hört zu!«
»He, ihr da, was soll das? Was habt ihr vor?«, fragte der Wärter wütend. Er schüttelte seinen Stachelstock w i der sie, aber die Fleck waren alle zurückgewichen und befanden sich außerhalb seiner Reichweite. Das Mä d chen, dessen Gesicht gerötet war und das an einem Arm aus einem langen Kratzer blutete, offenbarte gleichwohl immer noch eine jähe, ungezähmte Würde, welche ihre Nacktheit besser kleidete, als jedes Gewand das ve r mocht hätte. Sie warf ihre strähnige Mähne zurück und sprach mit klar vernehmlicher Stimme:
»Heute Nacht tanzen wir. Jetzt gleich. Das Volk tanzt den Staubtanz. Für euch alle. Kommt näher heran, ganz nahe. Schaut uns beim Tanzen zu. Nur ein Mal! Kommt näher und schaut!« Sie winkte uns mit beiden Händen zu sich heran.
Dem Wärter fiel vor Verblüffung die Kinnlade heru n ter. »Was soll das?«, fragte er wütend, aber die Fleck beachteten ihn nicht. Er packte die Kette, die die Tür zu ihrem Gehege sicherte, und rasselte drohend damit, als beabsichtige er hineinzugehen. Bettler warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu und ignorierte ihn dann wieder, während die drei Männchen sich in ihre Kiste zurückzogen. Das Mädchen postierte sich in die Mitte des Käfigs, außerhalb der Reichweite des Stachelstocks des Wärters. Dann hob es die Arme und rief: »Der Stau b tanz! Der Staubtanz! Kommt alle her und sehet den Staubtanz! So etwas habt ihr noch nie zuvor gesehen! Und ihr werdet so etwas auch nie wieder sehen! Kommt her, kommt alle her! Der Staubtanz des Volkes!«
Ihr Ton war gekonnt dem der Anreißer draußen nac h empfunden. Meine Achtung vor ihrer angeborenen Inte l ligenz stieg. Wir alle drängten uns ganz nah an den K ä fig, ungeachtet der strengen Mahnrufe des Wärters: »Z u rücktreten! Zurücktreten! Auf keinen Fall die Gitterstäbe berühren!« Als wir ihn alle ignorierten, hob er selbst die Stimme und b egann zu schreien: »Der Staubtanz der Wilden Fleck aus dem Osten! Hereinspaziert, hereinsp a ziert! Nur fünf Heller zusätzlich für den Staubtanz der Fleck! Läppische fünf Heller für etwas, das Sie nie wi e der sehen werden!«
Aber seine Versuche, die Gunst des Augenblicks zu nutzen und einen kleinen Nebenverdienst für sich h e rauszuschlagen, blieben größtenteils fruchtlos. Nur ein paar waren so töricht, in ihre Taschen zu greifen und die verlangten fünf Heller zu berappen, die er prompt in se i ner eigenen speckigen Geldbörse verschwinden ließ. Im Innern des Käfigs forderte das Mädchen weiterhin mit lauter Stimme die Leute zum Zuschauen auf, während die Männchen sich in ihrem Verschlag auf den Auftritt vorbereiteten. Nach bemerkenswert kurzer Zeit kamen sie wieder heraus, fertig zurechtgemacht für den Tanz. Federn, verwelkte Blätter, Fellstücke, Muschelschalen und ein Beutel baumelten an Schnüren, die sie sich um die Hüfte gebunden hatten. Ihr verfilztes Haar hatten sie hastig zu Zöpfen geflochten, die ihnen über den Rücken hingen. Lange Ohrringe aus billigen Glasperlen hingen ihnen bis fast auf die Schultern. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um Gegenstände handelte, die sie seit la n gem bei sich aufbewahrten und hüteten und deren Erla n gung sie womöglich große Mühe gekostet hatte.
Der
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