Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
stehen. Diese Ungerec h tigkeit erschien mir plötzlich genauso groß wie die, die ich gerade erlitten hatte. Ich holte tief Luft, um das G e fühl von Trostlosigkeit zu vertreiben, das mir die Kehle zuschnürte, und versuchte etwas zu erwidern.
»Halten Sie den Mund, Kadett«, sagte er kalt, bevor ich ein Wort herausbekommen konnte. »Ich bin weder der Sohn eines alten Edelmanns noch der eines neuen, aber ich erkenne eine Ungerechtigkeit, wenn ich sie sehe. Hören Sie. Hören Sie mir jetzt gut zu. Verlieren Sie ni e mandem gegenüber auch nur ein verdammtes Wort über diese Entlassung. Falten Sie sie zusammen und stecken Sie sie sich in die Tasche. Und machen Sie nichts, aber auch gar nichts, solange es Ihnen niemand befiehlt. Ha l ten Sie den Mund und bleiben Sie still auf Ihrem Hintern sitzen. Caulder ist mir ein Dorn im Auge, seit er und sein alter Herr hierhergekommen sind. Vielleicht ist es Zeit, dass ich mal ein Wörtchen mit dem Bengel rede und ihm sage, dass ich weiß, was es damit auf sich hat, dass er s tändig hier herumschleicht. Ich bekomme verdammt viel mehr mit, als ich sage. Vielleicht ist es Zeit, dass ich ihm mal ins Ohr flüstere, was ich weiß. Vielleicht geht er dann ja zu seinem Vater und bringt ihn dazu, es sich noch einmal zu überlegen. Aber je weniger Leuten der Oberst seinen Sinneswandel erklären muss, desto leichter wird ihm das fallen. Und du« – er verfiel, wahrscheinlich ohne es zu bemerken, in die vertrauliche Anrede – »du hältst dich jetzt erst einmal bedeckt und tust gar nichts. Hast du mich verstanden, Junge?«
»Jawohl, Sir«, sagte ich mit zittriger Stimme. Nach seinen aufmunternden Worten hätte ich mich eigentlich besser fühlen müssen. Stattdessen fühlte ich mich noch elender. »Danke, Sir.«
»Man redet einen Sergeant nicht mit ›Sir‹ an«, wies er mich mürrisch zurecht.
Ich weiß nicht, wie ich den Rest des langen Marsches zurück nach Haus Carneston bewältigte. Sergeant Rufet trennte sich an der Tür von mir und begab sich mit einem tiefen Seufzer wieder hinter seinen Schreibtisch. Ich hielt immer noch mein Entlassungsschreiben in der Hand. Ich stieg die Treppe hinauf. Sie war mir noch nie so steil und so lang erschienen. Ich ermahnte meinen Körper streng, sich zu benehmen, und versuchte mich zusammenzure i ßen. Auf dem ersten Absatz blieb ich stehen, um zu ve r schnaufen. Schweiß rann mir über Rücken und Brus t korb. Ich knüllte das Entlassungsschreiben zusammen – ich hatte einfach nicht die Kraft, es säuberlich zusa m menzufalten – und steckte es in die Tasche.
Ich hatte schon Klippen erklommen, die weniger schwer zu bewältigen waren als der Rest der Treppe in Haus Carneston. Als ich endlich unsere Etage erreichte, wankte ich an Spink vorbei, der an unserem Arbeitstisch saß. »Du siehst furchtbar aus!«, begrüßte er mich mit besorgtem Blick. »Was ist passiert?«
»Ich fühle mich völlig erschöpft«, sagte ich, und nicht ein Wort mehr. Ich torkelte in unser Zimmer, ließ meinen Mantel zu Boden fallen und ließ mich bäuchlings auf mein Bett plumpsen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so elend gefühlt. Gestern hatte ich erfahren, dass ich wohl ausgesondert werden würde, und es war mir wie das schlimmstmögliche Schicksal erschienen. Heute wusste ich, wie töricht ich gewesen war, das zu glauben. Als Ausgesonderter hätte ich trotzdem immer noch ei n facher Soldat oder Kundschafter werden können. Zumi n dest wäre m ir die Chance geblieben, mich als ordentl i cher Soldatensohn zu erweisen. Als unehrenhaft Entla s sener war ich nichts als eine Schande für meine Familie. Meine Gedärme zogen sich zusammen. Ich wusste erst, dass Spink mir in das Zimmer gefolgt war, als er sprach.
»Du bist nicht der Einzige, der sich elend fühlt. Trist liegt ganz schwer auf der Nase, mit etwas viel Schlimm e rem als einem Kater. Oron holt gerade den Arzt. Und Natred ist vor einer Stunde freiwillig ins Krankenrevier gegangen. Was hast du am Dunkelabend gegessen? N a tred sagt, er glaube, er habe sich den Magen an schlec h tem Fleisch verdorben.«
»Lass mich allein, Spink. Mir ist einfach nur furchtbar elend.« Nichts hätte ich lieber gewollt, als ihm anzuve r trauen, was vorgefallen war, aber ich hatte nicht einmal die Kraft, ihm alles zu erzählen. Außerdem hatte der Se r geant mir befohlen, niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen zu erwähnen. Und in Ermangelung eines besseren Rats hatte ich beschlossen, den seinen zu befolgen.
Weitere Kostenlose Bücher