Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Wahrheit gegeben hatte als uns. Oder herrschte der gütige Gott am Ende gar nicht über sie? Lebten ihre alten, scheinbar verblassenden Gö t ter am Ende doch fort, und hatte ich eine der Welten di e ser heidnischen Gottheiten besucht? Der Gedanke jagte mir in der Dunkelheit einen Schauer über den Rücken. Waren jene finsteren und grausamen Welten Orte, die wirklich existierten, nur einen Traumschritt von uns en t fernt?
Der gütige Gott vermag alles, sagt die Schrift. Er kann ein Quadrat in einen Kreis verwandeln, Gerechtigkeit aus der Tyrannei des Menschen erschaffen und Hoffnung aus den verdorrten Samenkörnern in der Wüste keimen la s sen. Wenn er all diese Dinge für sein Volk tun konnte, besaßen dann die alten Götter womöglich ähnliche Macht, wenn es um ihr Volk ging? Hatte ich eine Wir k lichkeit geschaut, die nicht für meinesgleichen gescha f fen war?
Ein Junge an der Schwelle zum Mannesalter denkt über solche Fragen nach, und so tat auch ich es in jener Nacht. Meine Meditationen ließen mich jedoch keine Ruhe finden. Am nächsten Morgen stand ich mit der Sonne auf, ohne geschlafen zu haben, aber dennoch nicht ermattet. Als die ersten Sonnenstrahlen mein Lager b e rührten, schien es, als habe der gütige Gott meine Gebete erhört, denn das Licht glitt kurz über eine schrundige Felsnase. Einen kurzen Moment lang ließ das Morgenrot in das Gestein eingeschlossene Hellglimmerflecken au f blitzen, dann veränderte sich der Winkel, und einmal mehr war es nur eine staubbedeckte Felsnase. Ich ging zu ihr hinüber, hockte mich davor, berührte sie und spürte ihre harte Wirklichkeit. Dies, da war ich ganz sicher, war die Mutter des kleinen Steines, der in meinem Fleisch gesteckt hatte. Wenigstens dieses grausame Souvenir stammte eindeutig aus dieser Welt. Ich stieg auf Sirlofty und ritt heimwärts.
Gleich in der nächsten Nacht, wie zur Belohnung d a für, dass ich meinen Vater belogen hatte, hörte ich am nassen Ende einer Wasserrinne, in der ich mein Nachtl a ger aufgeschlagen hatte, ein Rascheln im Buschwerk, und ein kleiner Flachlandrehbock kam zum Vorschein. Ich erlegte ihn mit einem einzigen Schuss. Ich schächtete ihn, schlitzte seine Hinterläufe zwischen den Sehnen und dem Knochen auf und hängte ihn an einen verkrüppelten Baum. Dann weidete ich ihn aus und spreizte die Brus t höhle mit einem Stock, damit das Fleisch auskühlen konnte. Er war nicht groß, und sein Geweih bestand nur aus ein paar kümmerlichen Spitzen, aber er lieferte mir einen hinreichenden Vorwand für meine Jagdexkursion.
Ich war nicht sonderlich überrascht, als Sergeant Duril in mein Lager geritten kam, während ich gerade die L e ber briet. »Es gibt nichts Besseres als frische Leber«, bemerkte er und saß ab. Ich fragte ihn nicht, ob er mir schon länger gefolgt war oder was er hier zu suchen ha t te. Unsere Pferde grasten friedlich miteinander, und wir teilten uns das Fleisch, als die Sterne am Himmel sich t bar wurden. Der Herbst war inzwischen so weit vorang e schritten, dass uns die Wärme des Feuers willkommen war. Wir lagen bereits eine Weile in unsere Decken ei n gehüllt da, schwiegen und taten so, als schliefen wir, da fragte er mich: »Möchtest du darüber reden?«
Beinahe hätte ich gesagt: »Ich kann nicht.« Das wäre eine ehrliche Antwort gewesen. Und sie hätte alle mögl i chen weiteren Fragen nach sich gezogen. Am Ende hätte ich ihn doch belügen müssen. Duril war kein Mann, den man anlog. Also sagte ich einfach: »Nein, Sergeant, ich glaube, nicht.«
Und das war es, was ich von Dewara gelernt hatte.
6. Schwert und Feder
Ich habe mit Menschen gesprochen, die schwere Verle t zungen erlitten hatten oder extremer Folter ausgesetzt gewesen waren oder einen herben Verlust hatten hi n nehmen müssen. Sie reden mit großem Abstand von so l chen Erlebnissen, als hätten sie sie aus ihrem Leben ve r bannt. Das Gleiche versuchte ich mit meinen Erfahru n gen mit Dewara. Nachdem ich mich selbst davon übe r zeugt hatte, dass nichts von meiner Begegnung mit der Baumfrau auch nur den Hauch eines Bezugs zur Wir k lichkeit hatte, setzte ich mein Leben wie gewohnt fort. Entschlossen ließ ich die Albtraumvision hinter mir – ähnlich wie einst meine kindlichen Ängste vor Kobolden unter meinem Bett oder den schönen Kinderglauben, dass das, was ich mir wünschte, in Erfüllung gehen würde, wenn ich einen Kometenschweif sah.
Es war nicht nur die Baumfrau, die ich aus meinen Gedanken zu verbannen
Weitere Kostenlose Bücher