Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Unter den Älteren, den Frauen und den ganz Jungen wütete die Sense des Todes noch heftiger und ließ nur wenige übrig. Sie ließ einen gesu n den, kräftigen Mann innerhalb von wenigen Tagen zu einem bejammernswerten Klappergestell aus Haut und Knochen dahinschwinden. Von denen, die überlebten, erholten sich einige wenige wieder so weit, dass sie ein normales Leben führen konnten, aber für den schweren, anstrengenden Dienst eines Kavalleristen waren die me i sten von ihnen nicht mehr zu gebrauchen. Viele von i h nen litten an Gleichgewichtsstörungen – eine schwere, nicht mehr wettzumachende Behinderung für einen K a valleriesoldaten. Die Überlebenden, die ich kennenlernte, waren unnatürlich dünn. Die Soldatensöhne der Freunde meines Vaters machten gerne auf ihrer langen Reise z u rück nach Alt-Thares bei uns Station. Sie aßen und tra n ken wie jeder andere Mann auch, und manche von ihnen verzehrten sogar ganz bewusst noch mehr als üblich. Trotzdem konnten sie anscheinend die Lebenskraft, die sie einst besessen hatten, nie mehr ganz zurückerlangen. Oft waren sie anfälliger für Knochenbrüche und Muske l risse als andere, gleichaltrige Männer, die nicht an der Seuche erkrankt waren. Es war traurig mit anzuschauen, wie einstmals kraftstrotzende junge Offiziere jetzt so dünn und geschwächt waren, dass sie in einem Alter aus dem Dienst ausschieden, in dem ihre Karriere eigentlich erst so richtig hätte beginnen sollen. Sie zeigten eine E r schöpfung, die mit der Anstrengung eines langen Tage s ritts allein nicht zu erklären war. Und sie erzählten von Grenzstädten voller Witwen, deren Männer, meist einf a che Soldaten, nicht im Krieg gefallen, sondern der Se u che erlegen waren.
Der Herbst kam, und die feuchten Winde des Winters erstickten die Flammen der Seuche. Das Ende des Jahres brachte meinen achtzehnten Geburtstag und den Tag des Dunkelabends. Letzterer wurde in unserem Haushalt nicht sonderlich gefeiert. Mein Vater betrachtete den Dunkelabend als einen heidnischen Feiertag, ein abe r gläubisches Überbleibsel aus der Zeit der alten Götter. Manche nannten ihn immer noch Nacht der Dunklen Frau. Nach den Lehren der alten Götter konnte eine ve r heiratete Frau in dieser einen Nacht des Jahres ihrem Mann untreu sein, ohne dafür zur Verantwortung gez o gen zu werden, denn in der Nacht der Dunklen Frau brauchte eine Frau keinem Willen außer ihrem eigenen zu gehorchen. Meine Mutter und meine Schwestern hie l ten natürlich nichts von derlei Unfug, aber ich wusste, dass sie einige der anderen Haushalte in unserem Gebiet beneideten, die den Dunkelabend immer noch mit Ma s kenbällen und opulenten Banketten begingen, vor allem, weil die Frauen dort an diesem Abend mit Edelsteinen, eingeschlagen in Sternenpapier, beschenkt wurden. In unserem Hause wurde die dunkelste Nacht des Winters ohne großes Tamtam begangen. Meine Mutter und meine Schwestern ließen kleine, mit brennenden Kerzen g e schmückte Schiffchen auf unserem Teich schwimmen, und mein Vater überreichte ihnen einen kleinen U m schlag mit einem Geldgeschenk, und das war es dann auch schon.
Ich hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass mein Geburtstag schlicht deshalb so aufwändig gefeiert wurde, weil mein Vater eine üppigere Dunkelabend-Feier als die eben geschilderte in unserem Haushalt verboten hatte, weshalb mein Geburtstag sozusagen stellvertretend zu dem Mittwinterereignis schlechthin aufgewertet wurde. Oft gab meine Mutter zur Feier des Tages ein besonderes Festmahl, zu dem sie Gäste von den benachbarten Gütern einlud. Aber in jenem Jahr, meinem achtzehnten Jahr, markierte mein Geburtstag meinen Eintritt ins Mannesa l ter, und aus diesem Grund wurde der Anlass besonders feierlich begangen und blieb auf den engsten Familie n kreis beschränkt.
Ich fand, dass die Feier durch diese Beschränkung eher noch förmlicher und gravitätischer geriet. Mein V a ter hatte eigens zu diesem Zweck Vanze aus dem Wes t kloster, wo er sein Theologiestudium absolvierte, nach Hause kommen lassen, damit er der Feier vorstand. Er war noch nicht einmal im Stimmbruch, aber furchtbar stolz, dass er das Familienstammbuch halten und sein Priestergewand tragen durfte, während er laut die für mich bestimmten Verse aus der Schrift vorlas: »Der zweitgeborene Sohn eines jeden Edelmannes soll seines Vaters Soldatensohn sein, geboren, um zu dienen. In se i ne Hand wird das Schwert gelegt, auf dass er mit diesem das Volk seines Vaters verteidige. Er
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