Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
trachtete: Ich verbannte auch die heimlichen Zweifel meines Vaters an mir aus meinem Denken. Dewara war ein Prüfstein gewesen, um zu s e hen, ob ich, wenn die Umstände es verlangten, in der L a ge war, die Weisheit meines Vaters infrage zu stellen, mich dem alten Flachlandkrieger zu widersetzen und mein eigener Herr zu sein. Ich hatte Dewara nur kurz getrotzt, bevor ich mich wieder seiner Führung unterwo r fen hatte. Gegen meinen Vater hatte ich hingegen nie aufbegehrt. Aber ich hatte ihn belogen. Ich hatte ihn b e logen, damit er glaubte, ich hätte das Rückgrat besessen, mich gegenüber dem Kidona zu behaupten. Wenn ich geglaubt hatte, mir mit dieser Lüge die Achtung meines Vaters erkaufen zu können, dann musste ich jetzt eins e hen, dass diese Hoffnung trügerisch gewesen war. Seine Einstellung mir gegenüber hatte sich nicht im Geringsten geändert – jedenfalls nicht, soweit ich es sehen konnte.
Für eine kurze Zeit kämpfte ich verzweifelt darum, seine Aufmerksamkeit und seinen Respekt zu erlangen. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, nicht nur in den Fecht- und Kavallatechniken, die ich so sehr liebte, so n dern auch in den akademischen Disziplinen, die meine Dämonen waren. Meine Noten besserten sich, und wenn er die monatlichen Zeugnisse meines Fortschritts ko m mentierte, lobte er mich für meinen Fleiß. Aber die Wo r te, die er dabei benutzte, waren die gleichen, die ich i m mer von ihm gehört hatte. Früher hatte ich nie auch nur den Verdacht gehegt, er könnte an mir zweifeln. Jetzt, wo ich wusste, dass er es offensichtlich tat, konnte ich seinen Lobreden nicht mehr glauben. Und wenn er mich tadelte, schmerzte es mich doppelt.
Alsbald wurde mir klar, dass ich nie irgendetwas wü r de tun können, das mir die uneingeschränkte Anerke n nung meines Vaters garantieren würde. Aus diesem Grunde fasste ich ganz bewusst den Entschluss, meine Erlebnisse beiseite zu schieben. Geisterreisen zu Bau m frauen und meinen Vater anzulügen – das passte und g e hörte nicht zum Alltagsverständnis meines Daseins. Ich glaube, dass die meisten Menschen auf diese Weise von einem Tag zum nächsten schreiten: Sie schieben alle E r fahrungen und Erlebnisse beiseite, die sich nicht mit i h rem Selbstbild vertragen.
Wie anders wäre unsere Wahrnehmung der Realität doch, schöben wir stattdessen die irdischen Ereignisse beiseite, die nicht neben unseren Träumen bestehen kö n nen!
Aber das war ein Gedanke, der mir erst viele Jahre später kam. Was von meinem sechzehnten Lebensjahr noch übrig war, bedurfte meiner vollen Konzentration. Auf meine Genesung folgte ein Wachstumsschub, der selbst meinen Vater in Erstaunen versetzte. Ich langte bei jeder Mahlzeit zu, als stünde ich kurz vor dem Verhu n gern. Und alles verwandelte sich in Körpergröße und Muskelmasse. Während meines sechzehnten Lebensja h res wuchs ich aus zwei Paar Stiefeln und vier Jacken he r aus. Meine Mutter erklärte ihren Freundinnen stolz, wenn ich nicht bald meine endgültige Größe erreichte und zu wachsen aufhörte, sähe sie sich gezwungen, eine Näherin einzustellen, damit ich immer anständig gekleidet sei.
Wie wohl jeder Jugendliche in diesem Alter hielt ich meine eigenen Sorgen für das Wichtigste überhaupt. So nahm ich kaum Notiz davon, dass mein jüngerer Bruder das Haus verließ, um sich seiner ersten Unterweisung für seinen späteren Beruf als Priester zu unterziehen, oder dass meine Schwester Yaril begann, lange Röcke zu tr a gen und sich das Haar hochzustecken. Ich war viel zu sehr mit der Frage beschäftigt, ob es mir je gelingen würde, die Verteidigung meines Fechtlehrers zu übe r winden, oder wie ich meine Trefferquote mit der Lan g waffe verbessern konnte. Im Rückblick betrachte ich di e se Jahre als die egoistischsten meines Lebens, aber ich glaube, dass solcherlei Egoismus und Selbstbezogenheit genauso u nausweichlich wie notwendig sind für einen jungen Mann, der dermaßen mit Lektionen und Wissen vollgestopft wurde wie ich.
Selbst die Ereignisse der äußeren Welt berührten mich kaum je, so sehr war ich in mein eigenes Wachsen und Werden vertieft. Die Nachrichten, die zu mir durchdra n gen, waren durch meine Sicht meiner Zukunft gefiltert. Ich wusste, dass der König und die sogenannten alten Edlen um Macht und Steuergelder rangen. Mein Vater diskutierte manchmal nach dem Abendessen mit meinem älteren Bruder Rosse über Politik, und obwohl ich wus s te, dass Politik kein geeignetes Thema für einen ang e
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