Nevermore
ganze Klasse auf. »Ausgeburt des Bösen!«
Ein seltsames Gefühl beschlich Isobel. Sie runzelte die Stirn und biss unwillkürlich die Zähne zusammen. Sie sah ihrem Vater dabei zu, wie er improvisierte. Sie stützte die Hände auf den Tisch und ihre Gedanken wurden langsam von einer wieder erwachenden Furcht gepackt. Sie erinnerte sich daran, dass Varen das damals in der Bibliothek erwähnt hatte, als sie zum ersten Mal gemeinsam an dem Projekt gearbeitet hatten - wie Poe auf dem Sterbebett unsichtbare Wesen angeschrien hatte.
»Am Abend vor seinem Tod«, fuhr Varen in feierlichem Ton fort, »begann er, laut einen Namen zu rufen. Er rief nach jemandem, den niemand kannte und den Berichten zufolge auch Poe nie gekannt hatte. Jemand, der Reynolds hieß -«
Isobel stockte hörbar der Atem. Angst und Panik durchzuckten sie wie kribbelnde weiße Dolche, ließen ihre Gedanken zu Eis erstarren und lähmten ihren Körper. Verblüfft saß sie da, den Blick auf Varen gerichtet, während sich das Bild einer in Schwarz gehüllten Gestalt in ihr Gedächtnis drängte.
Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis sie Mr Swansons Stimme registrierte. Anscheinend war es jedoch so lange gewesen, dass er gemerkt hatte, dass das nicht Teil des Vortrags war. »Isobel«, sagte er, »ist alles in Ordnung mit dir?«
Benommen suchte sie mit den Augen nach ihrem Vater, der fast aus der Rolle gefallen wäre und sie mit einem verständnislosen »Was ist denn los?«-Ausdruck anstarrte.
»Äh«, krächzte Isobel und tastete nach dem Radio. Nervös drückte sie auf Play, dann auf Pause und dann auf Stopp. »Die … die … äh … die Zeit ist leider um für heute«, stotterte sie und drückte wieder auf Play, in der Hoffnung, ihren Aussetzer überspielen zu können. Die letzten Reste einer weiteren Runde Applaus sickerten schlaff aus dem Gettoblaster und verebbten dann.
Ihr Vater verbeugte sich zögerlich, begleitet vom echten, wenn auch etwas sporadischen Applaus der Klasse, die ihre Aufmerksamkeit jetzt abwechselnd auf Isobel und Varen richtete. Zweifellos fragten sie sich, was ihnen da entgangen war.
»Ich, äh, werde nunmehr Abschied von euch nehmen«, sagte Isobels Vater und ging rückwärts Richtung Tür. Er warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu. Sie nickte. Das war das Einzige, wozu sie imstande war. »Ja«, bekräftigte er und drehte sich wieder zur Klasse. »Ich nehme also meinen Abschied und in diese Welt kehre ich zurück - nimmermehr!«
Betäubt sah Isobel zu, wie ihr Vater theatralisch aus dem Zimmer rauschte und an der Tür kurz anhielt, um den Lichtschalter zu betätigen, bevor er sich hinausstahl. Der Stoffvogel fiel auf den Linoleumboden. Eine in einem schwarzen Ärmel steckende Hand schoss hervor, griff sich den Vogel und zog ihn mit sich nach draußen. Isobel verzog das Gesicht und erinnerte sich vage daran, ihn angefleht zu haben, das mit dem Lichtschalter sein zu lassen.
Der Gong ertönte und beendete damit im Nu die Stunde. Alle sprangen von ihren Stühlen auf, hantierten mit ihren Hausarbeiten herum, ließen ihre Schreibblöcke fallen und lachten und redeten durcheinander.
Mr Swanson stand ebenfalls auf und verkündete über den Lärm hinweg: »Okaaay dann. Das habt ihr alle sehr gut gemacht - und eure Eltern auch«, fügte er mit einem durchdringenden Blick in Richtung Isobel hinzu, angesichts dessen sie normalerweise geschluckt hätte. »Hausarbeiten zu mir nach vorne, bitte. Eure Noten bekommt ihr irgendwann nächste Woche und ab dann werden wir noch ein bisschen ausführlicher über Mr Poe, die Vorkriegszeit und die Romantiker sprechen, bevor wir uns den Schriftstellern des Bürgerkriegs zuwenden. Ich wünsche euch ein sehr entspanntes Halloween heute Abend - los, Trenton Hawks! Ziehen Sie Ihre Hose hoch, Mr Levery, ich muss Ihre Boxershorts nicht unbedingt sehen. Und haltet euch bitte von Schwierigkeiten fern!«
Schwierigkeiten. Isobels Blick fiel auf Mr Swansons Schreibtisch und in Gedanken wiederholte sie das Wort, das er gerade verwendet hatte. Sie war in Schwierigkeiten - Reynolds.
War er nicht einfach nur eine Ausgeburt ihres Unterbewusstseins gewesen? Oder hatte ihn Varen vielleicht schon einmal erwähnt? Nein. Nein, denn daran hätte sie sich erinnert. Ihre Träume. Waren sie echt gewesen? Ihr wurde Idar, dass das die einzige Erklärung war. Das Poe-Buch. Sie hatte es doch weggeworfen. Die Gestalt beim Training. Das Bild im Spiegel. Der Lauf durch den Park. Die Stimme auf dem
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