Neville, Katherine - Der magische Zirkel
durchgedreht seit der Beerdigung. Ich wollte dich erreichen, dir alles erklären. Aber zunächst mal: Bist du in Ordnung?»
«Ich erhole mich», sagte ich. «Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich bin verrückt vor Freude, weil du lebst, und wütend, weil du mir – uns allen – so etwas zugemutet hast. Im Augenblick habe ich nur dein Wort, daß es wirklich nötig war, deinen Tod vorzutäuschen. Weiß das außer mir sonst noch jemand?»
«Im Moment kann es außer dir niemand wissen», sagte Sam. Seine Stimme klang wie eine gespannte Saite. «Wir sind in größter Gefahr, wenn jemand erfährt, daß ich lebe.»
«Was heißt wir?»
«Ariel, ich meine es ernst. Im Augenblick bist du mehr in Gefahr als ich. Ich hatte wahnsinnige Angst, du würdest nicht direkt nach Idaho zurückkommen – daß du vielleicht irgendwohin fährst, um allein zu sein, und das Päckchen nicht bekommen würdest. Als ich entdeckt habe, daß dein Telefon angezapft ist und dem Wagen durchsucht wurde, habe ich gebetet, du möchtest es an einem sicheren Ort deponieren…»
Die Kellnerin strich ihr Trinkgeld ein, das auf dem Tisch lag, und sah mich fragend an, ob ich noch einen Drink wollte.
Ich schüttelte den Kopf, während ich zu Sam sagte: «Ich weiß nicht, was du meinst.» Aber ich ahnte, was er meinte. Als die Kellnerin außer Hörweite war, flüsterte ich: «Welches Päckchen?»
In der Leitung herrschte plötzlich Totenstille. Ich fühlte die Spannung, die in dieser Stille lag. Als Sam schließlich antwortete, zitterte seine Stimme.
«Erzähl mir nicht, Ariel, du hättest es nicht bekommen», sagte er. «Ich mußte es vor der Beerdigung ganz schnell loswerden. Du warst die einzige Person, auf die ich mich in dieser Situation vollkommen verlassen konnte. Ich habe es an dich adressiert in einen Briefkasten geworfen. Ich dachte, niemand würde auf die Idee kommen, es unter der gewöhnlichen Post zu vermuten. Und ich habe gehofft, du würdest es bekommen, sobald du wieder zu Hause bist und deine Post abholst. Oder warst du noch nicht auf der Post?»
«Verdammt, Sam», flüsterte ich. «Was hast du mir angetan? Was hast du mir geschickt? Doch hoffentlich nicht meine ‹Erbschaft›?»
«Hat jemand auf der Beerdigung etwas davon erwähnt?» fragte Sam flüsternd, als würde jemand in der Leitung lauschen.
«Erwähnt?» fuhr ich auf, dämpfte meine Stimme aber sofort wieder. «Das Testament wurde laut verlesen! Augustus und Grace haben eine Pressekonferenz gegeben! Die Medien haben angerufen und wollten es finden! Onkel Laf kommt aus Österreich angeflogen! Reicht dir das?»
Ich war schon ganz heiser von dem Geflüster. Ich konnte nicht glauben, was mit meinem bislang ruhigen, geordneten Leben passierte. Ich konnte nicht glauben, daß Sam lebte und ich ihn am liebsten erwürgt hätte.
«Ariel, bitte», sagte Sam. Er klang, als würde er sich die Haare raufen. «Hast du deine Post abgeholt oder nicht? Gibt es eine Erklärung, warum du das Päckchen nicht gesehen haben könntest?»
Mir wurde richtig übel. Es war nicht schwer zu erraten, was das Päckchen enthielt: Pandoras Manuskripte. Die Manuskripte, auf die alle so versessen waren. Die Manuskripte, von denen ich glaubte, daß sie an Sams Tod schuld waren.
«Ich habe vergessen, einen Sammelauftrag bei der Post abzugeben», sagte ich und hörte, wie Sam am anderen Ende der Leitung scharf Luft holte. «Ich war ein bißchen durcheinander», sagte ich ärgerlich. «Schließlich mußte ich zu deiner Beerdigung. Ich habs einfach vergessen.»
«Wenn es die ganze Zeit in deinem Briefkasten war», sagte Sam immer noch flüsternd, «wo ist es dann jetzt?»
Großartig. Es war in einem Haufen Wust auf meinem Wohnzimmerfußboden – oder vielleicht in einer zwei Meter tiefen Schneewehe. Dann fiel mir ein, wie ich in den Schnee eingesunken war und meine Post auf die Straße unter das Auto geworfen hatte.
«Als ich gestern nacht heimkam, habe ich meinen Briefkasten geleert», sagte ich zu Sam, «und alles in der Wohnung auf den Boden geworfen. Ich habe mir die Post noch nicht angesehen. Sie liegt noch dort.»
«Mein Gott», sagte Sam. «Wenn deine Leitung schon abgehört wurde, bevor du zu Hause warst, dann haben sie deine Wohnung inzwischen durchsucht – vielleicht schon mehr als einmal. Sie wurde bestimmt durchsucht, nachdem du heute zur Arbeit gefahren bist. Ariel, ich bin wegen des Päckchens beinahe getötet worden, und du bist nur so lange sicher, wie sie glauben, daß du
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