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Nexus

Nexus

Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Blut aus ihm. «Dann bin ich also doch tot», murmelte ich. Aber ich glaubte es nicht.
    Ob ich nun tot war oder nicht, in diesem Augenblick sprangen die Tore meiner Erinnerung auf und durch die Korridore der Zeit sah ich, was kein Mensch sehen sollte, bis er seinen Geist aufgibt. Ich erkannte, welch ein elender Wicht ich in jeder Phase und in jedem Augenblick meiner kläglichen Schwäche gewesen war, welch ein Lump, der sich vergeblich und schändlicherweise bemüht hatte, sein erbärmliches kleines Herz zu schützen. Ich sah, daß es nie gebrochen war, wie ich mir dachte, sondern, von Furcht gelähmt, fast zu einem Nichts zusammengeschrumpft war. Ich sah, daß ich die schlimme Wunde, die mich so heruntergebracht hatte, in dem sinnlosen Bemühen erhalten hatte, dieses verschrumpfte Herz vor dem Brechen zu bewahren. Das Herz war nie berührt worden, es war wegen Nichtgebrauchs dahingeschwunden.
    Es war jetzt fort, dieses Herz, mir zweifellos vom Engel der Barmherzigkeit weggenommen. Ich war jetzt geheilt und wiederhergestellt, so daß ich im Tode weiterleben konnte, wie ich nie im Leben gelebt hatte. Ich war nicht mehr verwundbar, wozu hätte ich also noch ein Herz gebraucht?
    Als ich dort ausgestreckt lag und meine Kraft und mein Lebensmut sich wiederherstellten, erdrückte mich fast die Ungeheuerlichkeit meines Schicksals. Das Gefühl der gänzlichen Leere meiner Existenz überwältigte mich. Ich hatte erreicht, daß ich nicht mehr verwundbar war, das konnte mir niemand mehr nehmen, aber das Leben — wenn dies noch Leben war — hatte allen Sinn verloren. Meine Lippen bewegten sich wie im Gebet, aber die Fähigkeit, meiner Angst Ausdruck zu geben, fehlte mir. Ohne Herz hatte ich die Kraft verloren, mich mit anderen zu verständigen, selbst mit meinem Schöpfer.
    Nun erschien mir der Engel wieder. In seinen Händen, die er wie einen Kelch formte, hielt er mein armes verwelktes Herz, das einem Herzen kaum noch ähnlich war. Der Engel warf mir einen Blick unendlichen Mitleids zu und blies auf dieses erloschene Aschenhäufchen, bis es anschwoll und sich mit Blut füllte, bis es zwischen seinen Fingern wie ein lebendiges menschliches Herz schlug.
    Er setzte es mir wieder ein, wobei seine Lippen sich bewegten, als sagte er einen Segensspruch, aber kein Ton drang an mein Ohr. Meine Sünden waren mir vergeben. Es stand mir frei, neue zu begehen, die Flamme des Geistes wieder zu entfachen. Aber in diesem Augenblick erkannte ich, um es nie, nie mehr zu vergessen, daß es das Herz war, das regiert, das bindet und schützt. Auch würde es nie sterben, dieses Herz, denn seine Erhaltung lag in mächtigeren Händen.
    Welche Freude durchdrang mich da! Was für ein völliges und absolutes Vertrauen!
    Ich erhob mich als ein vollkommen neues Wesen und streckte die Arme aus, um die Welt zu umfassen. Nichts hatte sich verändert. Es war die Welt, die ich immer gekannt hatte. Aber ich sah sie jetzt mit anderen Augen an. Ich suchte ihr nicht mehr zu entkommen und ihren Übeln zu entfliehen und wollte sie auch nicht mehr im geringsten ändern. Ich gehörte ganz zu ihr und war eins mit ihr. Ich war durch das Tal des Todesschattens gegangen, ich schämte mich nicht mehr, menschlich, allzu menschlich zu sein.
    Ich hatte meinen Platz gefunden. Ich wußte, wohin ich gehörte.
    Mein Platz war in der Welt, mitten in Tod und Korruption. Als Begleiter hatte ich die Sonne, den Mond und die Sterne. Mein Herz, von allen Unzulänglichkeiten gereinigt, kannte keine Furcht mehr. Es lechzte danach, sich dem ersten besten anzubieten. Wahrhaftig, ich hatte den Eindruck, daß ich ganz Herz war, ein Herz, das nie mehr brechen, ja, nicht einmal verwundet werden konnte, da es für immer unzertrennlich war von dem, der ihm Leben gegeben hatte.
    Als ich so vorwärtsschritt, mitten in die Welt hinein, rief ich darum dort, wo nur ein Trümmerfeld vorhanden war und nur Panik herrschte, mit aller Glut meiner Seele: «Faßt Mut, ihr Brüder und Schwestern! Faßt Mut!»
12
    Als ich am Montagmorgen ins Büro kam, fand ich ein Telegramm auf meinem Tisch vor. Schwarz auf weiß besagte es, ihr Schiff komme am Donnerstag an, ich solle sie am Kai abholen.
    Ich sagte nichts zu Tony, er hätte das nur als Unglück angesehen. Ich wiederholte mir die Worte immer wieder, es schien fast unglaubhaft.
    Es dauerte Stunden, bis ich mich sammelte. Als ich abends vom Büro fortging, las ich das Telegramm noch einmal, um sicherzugehen, daß ich mich nicht etwa geirrt hatte. Nein, sie

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