Nexus
monolithischen Tempeln, an ihren dunklen Wänden oder an ihrer sonnenverbrannten Außenseite entwickelt der wahre Genius Indiens seine erschreckende Kraft. Hier machen sich die wirren Reden wirr durcheinandergeworfener Menschenmassen hörbar. Hier bekennt der Mensch unwiderruflich seine Stärke und seine Ohnmacht...»
Ich las weiter, berauscht wie immer. Die Worte waren keine Worte mehr, sondern lebende Bilder, die frisch, schimmernd, pulsierend aus der Gußform kamen und mir durch ihre auswuchsartigen, abnormen Formen den Atem nahmen.
«... Die Elemente selbst können alle diese lebendigen Formen nicht mit größerem Erfolg wieder in die bunte Fülle der Erde hineinwachsen lassen, als es die Bildhauer bereits getan haben. In Indien findet man in den Tiefen der Wälder Pilze aus Stein, die in dem grünen Schatten wie giftige Pflanzen schimmern. Manchmal stößt man auf schwere steinerne Elefanten, die ganz für sich stehen, mit so moosigem und rauhem Fell, als lebten sie. Sie verwachsen mit dem Rankenwerk, das Gras wächst ihnen bis an den Bauch, Blumen und Blätter bedecken sie, und selbst wenn ihre Überreste zur Erde zurückgekehrt sind, werden sie von dem wuchernden Wald nicht vollständiger absorbiert werden als jetzt.»
Welch ein Gedanke, dieser letzte! Selbst wenn sie zur Erde zurückgekehrt sind ...
Ah, und jetzt die Stelle ...
«... Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens. Er ist nicht mehr jene Blüte der ganzen Welt, auf die diese in einem langsamen Entwicklungsprozeß hingearbeitet hat. Er ist mit allen Dingen verquickt, er ist mit allen Dingen auf gleicher Ebene, er ist ein Teil des Unendlichen, weder mehr noch weniger wichtig als die anderen Teile. Die Erde geht in die Bäume über, die Bäume in die Früchte, die Früchte in Menschen und Tiere, Mensch und Tier sinken wieder in die Erde. Der Kreislauf des Lebens läßt eine vielfältige Welt entstehen, in dem für eine Sekunde Formen auftauchen, um gleich wieder verschluckt zu werden und dann wieder zu erscheinen, sie überdecken einander, durchdringen einander, wenn sie wie Wellen auf- und absteigen. Der Mensch weiß nicht, ob er nicht erst gestern das Werkzeug war, mit dem er selbst die Materie zwingt, die Form freizugeben, die er vielleicht morgen haben wird. Alles ist nur Schein, und unter der Verschiedenartigkeit der Erscheinung ist Brahma, der Geist der Welt, eine Einheit. . . Weiß er, verloren in dem Ozean durcheinandergemischter Formen und Energien, ob er noch eine Form oder schon ein Geist ist? Ist das Ding vor uns ein denkendes Wesen, ein lebendes Wesen, auch wenn es ein Planet ist oder ein in Stein gehauener Gegenstand? Zeugung und Verwesung sind unaufhörlich ineinander verschlungen. Alles hat seinen Schwerpunkt, ausgedehnte Materie schlägt wie ein Herz. Besteht nicht die Weisheit darin, in ihr unterzutauchen und den Rausch des Unbewußten zu kosten, wenn man in den Besitz der sich in der Materie regenden Kraft kommt?»
Wer liebt nicht die Kunst des Ostens? Aber welcher Osten ist es, der Nahe oder der Ferne? Ich liebe sie beide. Vielleicht liebe ich diese Kunst, die von unserer so sehr verschieden ist, weil nach den Worten Ehe Faures «der Mensch nicht mehr Mittelpunkt des Lebens» ist. Vielleicht war es diese Gleichstellung (und Erhöhung) des Menschen, diese Vermischung mit dem gleichzeitig so unendlich kleinen und unendlich großen Leben, die einen solchen Überschwang erzeugte, wenn man dieser Kunst gegenüberstand. Oder, um es anders auszudrücken, weil die Natur (in dieser Kunst) etwas anderes war, etwas mehr als ein bloßer Rückfall. Weil der Mensch zwar göttlich, aber doch nicht göttlicher war als die Materie, aus der er entstand. Vielleicht auch, weil diese Künstler nicht den Aufruhr und die Wirrnis des Lebens mit dem Aufruhr und Wirrwarr des Intellekts vermengten. Weil der Geist -oder die Seele - durch alles hindurchscheinen und eine göttliche Strahlung hervorbringen kann. Obgleich um einige Stufen hinabgesetzt und demütig gemacht, wurde der Mensch nie bedeutungslos und unbedeutend, nie ausgelöscht oder erniedrigt. Er wurde nicht dargestellt, wie er vor dem Erhabenen kroch, sondern mit ihm verschmolzen. Wenn es einen Schlüssel zu den Geheimnissen gab, die ihn einhüllten, durchdrangen und stützten, so war es ein einfacher Schlüssel, der allen zugänglich war, nicht nur einer Priesterkaste.
Ja, ich liebe diese ungeheure, verblüffende Welt der Inder, die ich, wer weiß, eines Tages mit eigenen Augen
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