Nexus
gemacht?»
«Das Schicksal warf mich hinaus. Aber dies muß ich auch noch sagen ... ich verging vor Gram, aber ich betete auch. Jeden Tag betete ich, daß jemand - vielleicht Gott - mir den Weg zeigen sollte. Schon damals dachte ich auch an Schreiben. Aber es war mehr ein Traum als eine Möglichkeit. Es dauerte noch Jahre, selbst als ich den Schneiderladen schon längst verlassen hatte, ehe ich eine Zeile zu Papier brachte. Man sollte nie verzweifeln ...»
«Aber Sie waren damals noch jung. Ich werde langsam ein alter Mann.»
«Das macht nichts. Die Jahre, die Ihnen noch verbleiben, gehören Ihnen. Wenn Sie wirklich den dringenden Wunsch haben, irgend etwas Besonderes zu tun, wird sich auch die Zeit finden, da Sie ihn erfüllen können.»
«Miller», sagte er fast kläglich, «in mir ist kein schöpferischer Drang. Ich will nur aus meinem Elend herauskommen. Ich will wieder leben. Ich will wieder im Strom mitschwimmen, das ist alles.»
«Was hält Sie zurück?»
«Sagen Sie das nicht. Das bitte nicht. Was mich zurückhält? Alles. Meine Frau, meine Kinder, meine Verpflichtungen. Am meisten von allem ich selbst. Ich habe eine zu niedrige Meinung von mir.»
Ich mußte lächeln. Dann sagte ich wie zu mir selbst: «Nur wir Menschen haben eine niedrige Meinung von uns selbst. Nehmen Sie zum Beispiel einen Wurm - meinen Sie, daß ein Wurm geringschätzig auf sich selbst herabschaut?»
«Es ist schrecklich, wenn man sich schuldig fühlt», seufzte er. «Und weswegen? Was habe ich getan?»
«Das Schuldgefühl kommt von dem, was Sie nicht getan haben. So wird es wohl sein, nicht wahr?»
«Ja, ja, natürlich.»
«Wissen Sie, was wichtiger ist als etwas zu tun?»
«Nein», sagte Reb.
«Das sein, was man ist.»
«Aber wenn man nichts ist?»
«Dann seien Sie nichts. Aber seien Sie es absolut.»
«Das klingt verrückt.»
«Ist es auch. Darum ist's so heilsam.»
«Sprechen Sie weiter, bitte», sagte er. «Mir ist schon ganz anders zumute.»
«Im Wissen steckt der Tod. Das haben Sie schon mal gehört, nicht wahr? Ist es nicht besser, ein bißchen meschugge zu sein? Wer macht sich Sorge um Sie? Nur Sie selbst. Wenn Sie es nicht mehr in dem Laden aushalten können, warum stehen Sie nicht auf und gehen spazieren oder sehen sich einen Film an? Machen Sie den Laden zu, schließen Sie die Tür ab. Ein Kunde mehr oder weniger bedeutet doch für Sie nichts. Genießen Sie das Leben! Gehen Sie ab und zu zum Fischen, wenn Sie auch nichts davon verstehen. Oder fahren Sie mit Ihrem Wagen aufs Land. Irgendwohin. Hören Sie den Vögeln zu, bringen Sie ein paar Blumen oder einige frische Austern mit heim.»
Er lehnte sich vor, war ganz Ohr und grinste über das ganze Gesicht. «Sagen Sie noch mehr. Es klingt wunderbar.»
«Nun, dies noch ... Der Laden wird Ihnen nicht davonlaufen. Das Geschäft geht nicht besser, weil Sie den ganzen Tag darinhocken. Niemand verlangt von Ihnen, daß Sie sich einschließen. Sie sind ein freier Mensch. Wenn Sie sich weniger um das Geschäft kümmern und dadurch glücklicher werden, wer kann Sie tadeln? Ich mache Ihnen noch einen Vorschlag. Gehen Sie nicht allein, nehmen Sie einen Ihrer Negermieter mit. Lassen Sie ihn an den Freuden der Welt teilhaben. Kleiden Sie ihn aus Ihrem Laden ein. Fragen Sie ihn, ob Sie ihm Geld leihen dürfen. Kaufen Sie seiner Frau ein kleines Geschenk, das er ihr überbringen kann. Begreifen Sie, was ich meine?»
Er fing an zu lachen. «Ob ich es begreife? Es klingt großartig. Ich werde genau das tun, was Sie sagen.»
«Stürzen Sie sich aber nicht gleich mit vollen Segeln hinein», warnte ich ihn. «Fangen Sie langsam und gemächlich an. Folgen Sie Ihren Instinkten. Vielleicht werden Sie zum Beispiel Lust verspüren, sich ein saftiges Stück Schwanz zuzulegen. Sie brauchen kein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Versuchen Sie dann und wann ein Stück schwarzen Fleisches. Es schmeckt besser und kostet weniger. Versuchen Sie alles, was ausspannt. Machen Sie sich einen guten Tag. Wenn Ihnen zumute ist wie einem Wurm, kriechen Sie, wenn Sie sich als Vogel fühlen, fliegen Sie. Was die Nachbarn darüber denken mögen, kann Ihnen Wurst sein. Nehmen Sie auch keine Rücksicht auf Ihre Kinder, die werden schon allein mit sich fertig. Und wenn Ihre Frau sieht, daß Sie glücklich sind, wird sie vielleicht einen anderen Ton anschlagen. Sie haben eine gute Frau. Sie ist vielleicht etwas zu gewissenhaft, das ist alles. Sie muß ab und zu etwas lachen. Haben Sie es schon einmal
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