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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Türrahmen.
    »Delia? Sind Sie zu Hause? Delia? Ich bin’s, Gray.«
    Keine Antwort.
    Nichts regte sich.
    Nur die Musik umfloss ihn wie eine Unterströmung, die ihn ins Haus
zog. Er ging langsam durch den Korridor, wobei er es wie immer vermied, auf den
langen Orientläufer zu treten, den Delia nicht gern von Gärtnerschuhen
beschmutzt sah.
    Schließlich stand er vor der Tür zum Musikzimmer und sah in den
eleganten, achteckigen, von Licht und Klängen erfüllten Raum. Die Cellomusik
kam aus Delias alter, aber leistungsfähiger Hi-Fi-Anlage.
    So dicht an der Quelle und bei dieser Lautstärke klang das Cello
weniger nach Honig und mehr wie das bedrohliche Brummen eines gewaltigen
Wesens, das unter dem Parkettboden verborgen war. Er spürte die Vibrationen in
den Fußsohlen und den Schienbeinen.
    Alle Lichter im Raum waren eingeschaltet, auch die große
Tiffanylampe in der Mitte der Decke. Er trat ein und sah sich um, bemerkte aber
nichts Auffälliges und kein Zeichen von Unordnung.
    Ein Kristallglas, halb voll mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
Er hob es hoch.
    Scotch, inzwischen warm und abgestanden.
    Das Polster des Sessels, in dem Delia beim Fernsehen gern saß, war
eingedrückt, und die Decke aus weißem Fuchspelz lag auf dem Parkettboden, als
wäre Delia plötzlich aufgestanden, weil das Telefon oder die Türglocke geläutet
hatte.
    Nein, nicht das Telefon.
    Da lag er, der schnurlose Apparat, auf dessen Anschaffung – für alle
Fälle – Mrs Bayer bestanden hatte.
    Gray starrte den Sessel eine Zeitlang an und versuchte, aus seinen
Eindrücken eine verwertbare Schlussfolgerung zu ziehen, was ihm jedoch
misslang. Gerade als er die Hand ausstreckte, um die Musik abzustellen,
bemerkte er jenseits der Flügeltür zum holzgetäfelten Esszimmer eine Bewegung.
    Die Glasscheiben in der Tür waren alt und wellig, doch als Gray
hindurchspähte, schien es ihm, als wäre etwas – nein, jemand – auf dem
Rosenholztisch in der Mitte des Raums. Da war eine verschwommene, rosige
Gestalt, die sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst drehte. Sie hatte den
Kopf in den Nacken gelegt und das blasse Gesicht zu dem Kronleuchter über dem
Tisch erhoben.
    Selbst durch das antike Glas konnte er erkennen, dass, wer immer
dort stand – wer immer dort tanzte  –, nicht Delia war.
    Delias Haar war silberweiß, diese Gestalt dagegen – unverkennbar
eine Frau – hatte schulterlanges kastanienbraunes Haar, das von ihrem Kopf
abstand, während sie auf dem Tisch Pirouetten drehte.
    Gray stand da und verlor jedes Zeitgefühl. Er sah der Frau zu, wie
gebannt von der Wildheit und Eleganz ihres Tanzes. Irgendwann wurde ihm
bewusst, dass sie nackt war.
    Diese fiebrige, wie Feuer durch das wellige Glas von Delia Cottons
Flügeltür flackernde Vision einer nackten, tanzenden Frau und das tiefe Dröhnen
des Cellos, unter dem das ganze Haus und sogar seine eigenen alten Knochen
erbebten, ließen ihn wie unter Hypnose erstarren. Irgendetwas an dieser
tanzenden Gestalt war beunruhigend vertraut, und genau in dem Augenblick, als
ihm der Name durch den Kopf schoss – Margaret  –, hörte die nackte Frau auf, sich
um sich selbst zu drehen, wandte sich ihm zu und sah ihn durch das Glas an.
    Sie breitete die Arme aus, sie öffnete sich ihm und wartete offenbar
darauf, dass er zu ihr kam. Gesicht und Körper flirrten und verschwammen.
    Gray Haggard dachte, er sei vielleicht vom Schlag getroffen oder
stehe an der Schwelle einer erleuchtenden Erfahrung, möglicherweise sogar des
Todes, doch er hing nicht so sehr am Leben, dass diese Möglichkeiten sehr
beängstigend gewesen wären. Wie im Traum ging er auf die Gestalt hinter dem
Glas zu.
    Er stand vor der Tür – Margaret  –, legte die trockenen, schwieligen
Hände auf die Türgriffe, und seine klaren blauen Augen waren auf die nackte
Frau gerichtet – Margaret  –, sie wartete mit ausgebreiteten Armen auf der anderen Seite der Tür, ihr
üppiger Körper und die vollen Brüste leuchteten wie Alabaster in dem
diamantharten Licht. Gray drehte die Griffe und stieß die Flügeltür weit auf.
    Im Esszimmer war es dunkel.
    Stockfinster.
    Er konnte nichts erkennen, es war, als hätte man ihm ein schwarzes
Tuch über den Kopf geworfen.
    Er schüttelte den Kopf, blinzelte und dachte: Ich habe einen Schlaganfall ,
doch dann bemerkte er einen blassen, silbrig flackernden Lichtschein zu beiden
Seiten, und als er den Kopf wandte und auf das wellige Glas in einem der
Türflügel blickte, sah er, dass

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