Nicholas Dane (German Edition)
Hauptgebäude, im hinteren Teil des Erdgeschosses. Er war klein, hatte ein winziges, vergittertes Fenster oben unter der Decke, gut außer Reichweite, und eine dicke Tür. Der Fußboden war gefliest. Ausgestattet war der Raum mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Ursprünglich sollten hier besonders schutzbedürftige Kinder untergebracht werden, bei denen das Risiko bestand, dass sie weglaufen und sich somit gefährden könnten. Tatsächlich wurde der Raum als Arrestzelle genutzt, in die Heiminsassen zur Strafe verbannt wurden.
Sozialarbeiter, die nach Meadow Hill kamen, äußerten gelegentlich ihr Befremden darüber, dass der Raum eher wie eine Gefängniszelle aussah, und dann musste ihnen erklärt werden, dass die Jungen, die dort (zu ihrem eigenen Schutz) untergebracht wurden, oft so gewalttätig waren, dass sogar der Tisch und der Stuhl regelmäßig ersetzt werden mussten. So weit stimmte das. Nach einer Woche Nichtstun und ohne Kontakt zu anderen (außer man wurde, wie es bei Nick der Fall war, einmal am Tag hinausgeführt und verprügelt) durchliefen die meisten Jungen zunächst eine Phase der Raserei, bevor sie depressiv wurden. Irgendwann kam es bei fast allen dazu, dass sie sich auf die Dinge stürzten, auf die sie in irgendeiner Weise einwirken konnten – und das waren der Tisch und der Stuhl, aus denen die Jungen regelmäßig mit ausgesprochener Befriedigung Kleinholz machten.
Zur Verteidigung von Mr James und anderen Mitarbeitern muss gesagt werden, dass die meisten von ihnen sich einfach nicht vorstellen konnten, wie verheerend solch endlos lange Tage ohne Kontakt zu anderen und ohne jegliche Tätigkeit für die menschliche Psyche sind. Sie wären höchst überrascht gewesen, wenn sie erfahren hätten, wie verzweifelt die Jungen waren, die an diesem Ort verwahrt wurden, obwohl die Verantwortlichen schon dafür sorgten, dass keiner der Jungen einen Gürtel, eine Schnur oder ein Messer bei sich behielt. In Meadow Hill hatte es bereits Fälle von Selbstverstümmelung, sogar Selbstmorde gegeben, und zwar vor allem im Schutzraum. Niemand wollte, dass sich so etwas wiederholte.
Für eine Weile empfand Nick es als Erleichterung, weggeschlossen zu sein. Ohne die ständig drohende Gewalt, die seinen Alltag im Heim bestimmte, konnte er zum ersten Mal seit Wochen in Ruhe über alles nachdenken und sogar ein wenig um seine Mutter trauern. Erst nach einigen Tagen versank er in der langen, schwarzen Nacht seiner Seele.
Der erste Tag, an dem er auf das Gespräch mit Mr James gewartet hatte, war in jedem Fall hilfreich gewesen. Er hatte sich ziemlich bald gefangen. Vor allem war er entsetzt über das, was er Oliver angetan hatte. Er hatte völlig die Kontrolle verloren. Es war ein Moment größter Bedrängnis gewesen, ein Moment, in dem er jede Hoffnung aufgegeben und begriffen hatte, dass er reingelegt worden war. Der einzige Mann, den er für seinen Beschützer gehalten hatte, war alles andere als das. Trotzdem – das war keine Entschuldigung, und als er zu dem Gespräch mit Mr James gebracht wurde, hatte Nick keinen Zweifel daran, dass abgesehen von ihm selbst Tony Creal der Hauptschuldige war.
Nick wusste genau, was er dem Heimleiter sagen wollte. Als er aus dessen Büro abgeführt wurde, hatte er verstanden, dass es Zeitverschwendung gewesen war. Was er in dieser Sache zu sagen hatte, würde sich niemand je anhören. Als er anschließend allein in seiner Zelle saß und Tag für Tag auf die schreckliche Prügelstrafe wartete, die der Heimleiter verhängt hatte, da überfiel ihn tiefste Verzweiflung.
Sobald Mr James seine Frau mit ihren Pillen gefüttert, ins Bett verfrachtet und den eigenen Kopf mit Valium und Gin zugedröhnt hatte, rief er seinen Stellvertreter an und sagte ihm, was der Junge vorgebracht hatte.
»Sie müssen vorsichtiger sein, Tony«, nuschelte er. »Das geht nicht, dass Sie so einen kleinen Scheißkerl bei sich in der Wohnung haben und niemand sonst dabei ist. Das ist ja eine regelrechte Einladung. Natürlich nutzen die so was aus.«
»Ich denke dabei nicht an mich«, sagte Mr Creal.
»Ich weiß, ich weiß. Das Problem ist nur … nun ja. Sie haben eben keine besonders gute Menschenkenntnis.«
Nach dem Gespräch legte Tony Creal das Telefon ab und blieb eine Weile an seinem Schreibtisch sitzen. Im Moment war er eher verletzt als wütend. Vielleicht hatte der Heimleiter Recht. Natürlich war ihm klar, dass er die Situation herbeigeführt hatte, aber irgendwie schaffte er es
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