Nicholas Dane (German Edition)
wurde seine Zunge dick, würgten ihn Scham und Demütigung.
Letztlich war die Liebe nicht stark genug. Die neue Familie seiner Mutter litt, und die Mutter merkte, dass sie Oliver nicht mehr gewachsen war. Die Besuche zu Hause hörten auf. Er wurde in diverse Pflegefamilien vermittelt. Er war ein hübscher Junge, so einer, den viele Mütter sich als Sohn wünschten. Aber natürlich erging es ihnen mit Oliver auch nicht besser als seiner Mutter. Mit elf wurde Oliver dann nach Meadow Hill geschickt, wo der liebe Mr Creal ihn mit offenen Armen empfing und ihm zum ersten Mal Schutz und Freundlichkeit in einem Maße bot, wie es Oliver noch nicht erlebt hatte. Als Nick kam und sich mit ihm anfreundete, war aus ihm bereits der kleine blonde Lappen geworden, den wir kennengelernt haben, der zum Überleben auf nichts anderes zurückgreifen konnte als auf die Fähigkeit, zu tun, was von ihm verlangt wurde, und auf die Überbleibsel jenes schalkhaften Humors, die Nick an seinem ersten Tag bemerkt hatte.
Es wäre sicher dumm zu behaupten, Nick hätte Glück gehabt – nach allem, was ihm zugestoßen war; aber es bleibt festzuhalten: Wie bedrohlich seine Gegenwart, wie ungewiss seine Zukunft auch sein mochte, er konnte sich wenigstens auf eine stabile Vergangenheit stützen. Muriel war keine hervorragende Mutter gewesen, aber auch keine schlechte. Nick hatte von ihr vierzehn Jahre lang Liebe und Unterstützung erfahren, und diese vierzehn Jahre hatte er den meisten anderen Kindern voraus, die in Meadow Hill weggesperrt waren. Wenn Muriels kleiner Ausflug ins Paradies an jenem schicksalhaften Morgen nicht ins Jenseits geführt hätte, hätte Nicks Leben ganz ordentlich weitergehen können. Jedenfalls war Nick ein zäher Bursche. Ihm war Schaden zugefügt worden, und er war tief getroffen, aber es war einem gesunden Herzen geschehen.
In den langen, einsamen Stunden in der Arrestzelle fühlte er sich oft elend und verzweifelt, so hoffnungslos und verlassen wie vielleicht nie wieder in seinem Leben. Aber gleichzeitig erinnerte er sich zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter auch an früher.
»Lass dich nicht von den Arschlöchern unterkriegen«, hatte Muriel zu ihm gesagt, wenn er in der Schule einen schweren Stand hatte. »Sei nicht wie sie.« Das war so ein typischer Muriel-Satz. Sonst hatte Nick nie auf den Rat seiner Mutter gehört, aber jetzt, zum ersten Mal, seit er klein war, konnte er damit wirklich etwas anfangen. In den langen Stunden, die er darauf wartete, dass Mr Creal zurückkam und ihm mit seinen fröhlichen Freunden einen weiteren Besuch abstattete, ging ihm der Satz immer und immer wieder durch den Kopf.
»Sei nicht wie sie.« Denn das Ungeheuer hat zwei Möglichkeiten, dich zu zerstören. Es kann dich fressen – oder es kann dich selbst in ein Ungeheuer verwandeln. Gewinnen wird es in jedem Fall. Als Nick sich auf Oliver gestürzt hatte, war er wie einer von denen gewesen – einer wie Creal oder Toms oder Andrews oder all die anderen. Er war selbst zum Schläger und Schänder geworden.
Ein Halunke war er immer gewesen, unser Nick Dane, aber ein großherziger und ein treuer Halunke. Als er seinen Freund angegriffen hatte, hatte er gegen seine eigene goldene Regel verstoßen. Jeder von uns hat eine Gabe; Nick hatte die Gabe, ein guter Freund zu sein. Ohne seine Freunde, ohne die Treue zu ihnen, war Nick nichts. In seinen dunkelsten Stunden sah er nicht Tony Creals anzügliches Grinsen, nicht, wie die Arme seiner Schänder ihn niederdrückten, sondern er sah Olivers Gesicht und dazu die Sohle seines Stiefels.
»Ich steh nicht drauf, ich steh nicht drauf«, hatte der Jüngere geschrien. Als hätte Nick das nicht schon tief in seinem Inneren gewusst. Sobald er aus dem Arrest war, wollte er nur eines: sich mit Oliver aussöhnen.
14
Der Plan
Am siebten Tag wurde Nick zurück zu seiner Wohngruppe gebracht, er betrat das Gebäude, setzte sich auf den Boden, an die Wand gelehnt, ganz für sich. Wenig später stellte sich Davey neben ihn.
»Alles klar, Kumpel?«, fragte er.
»Alles klar«, sagte Nick.
Schweigen. Davey setzte sich neben ihn.
»War jemand bei dir?«, fragte Davey.
»Creal und noch zwei«, sagte Nick. Er blickte zur Seite, Davey blickte zur Seite. Mehr wurde nicht gesprochen, und so reihte sich Nick in die Reihe der Schweigenden ein. Nicht allein wegen der Gewalt, der Erniedrigung – Creal hatte auch bewirkt, dass er sich tief in seinem Innern schmutzig fühlte. Jetzt wollte er nur
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