Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
langweilig gehalten hatte. Als Folge hatte sie sich ganz bewusst bemüht, modischer aufzutreten, mehr wie ihre Freundin Elle, die jede Woche eine andere Haarfarbe hatte und in deren Kleiderschrank immer das Neueste vom Neuen hing. Sophie hatte alles gesammelt, was sie in Zeitschriften über die Städte in Europa gefunden hatte, in denen Mode und Kunst gemacht wurden. London und Paris, Rom, Mailand, Berlin. Sie hatte allerdings beschlossen, keinem Modediktat zu folgen; sie wollte ihre eigene Mode kreieren. Die Phase hatte ungefähr einen Monat gedauert. Mode war eine teure Sache, und das Taschengeld, das sie und ihr Bruder bekamen, war knapp bemessen.
Der Wunsch, die berühmten Städte der Modewelt selbst zu besuchen, war jedoch geblieben. Sie und Josh hatten sogar schon darüber geredet, vor dem College ein Jahr lang mit dem Rucksack durch Europa zu reisen. Und jetzt war sie leibhaftig in einer der schönsten Städte der Welt und hatte nicht die geringste Lust, sie zu erkunden. Sie wollte nur eines: zurück nach San Francisco.
Doch was würde sie dort erwarten?
Bei dem Gedanken überlief es sie kalt.
Obwohl sie oft umgezogen und noch mehr herumgereist waren, hatte sie bis vor zwei Tagen immer gewusst, was sie in den nächsten Monaten erwartete. Auch der Rest dieses Jahres hatte bis vor Kurzem noch vor ihr gelegen wie ein langweiliges Buch: Im Herbst würden ihre Eltern ihre Lehrtätigkeit an der Universität von San Francisco wieder aufnehmen und sie und Josh würden wieder zur Schule gehen. Im Dezember würden sie wie jedes Jahr nach Providence, Rhode Island, fliegen, wo ihr Vater an der Brown-Universität seit zwanzig Jahren die Weihnachtsvorlesung hielt. Am 21. Dezember, ihrem Geburtstag, würden die Eltern mit ihnen nach New York gehen, damit sie die Weihnachtsbeleuchtung in den Läden und Straßen bewundern konnten und den Weihnachtsbaum im Rockefeller Center. Anschließend war immer Schlittschuhlaufen angesagt. Im Stage Door Deli würden sie zu Mittag essen: Suppe mit Matzo-Klößchen und riesige belegte Brotfladen und zusammen ein Stück Kürbis-Pie. Am Weihnachtsabend würden sie zum Haus ihrer Tante Christine nach Montauk auf Long Island fahren, wo sie über die Feiertage bleiben und auch noch das Neue Jahr feiern würden. Das war in den vergangenen zehn Jahren Tradition geworden.
Und jetzt?
Sophie atmete tief durch. Jetzt besaß sie Kräfte und Fähigkeiten, die sie kaum verstand. Sie hatte Zugang zu einem geheimen Wissen, mit dem sie die Geschichtsbücher neu schreiben könnte. Und doch wünschte sie sich mehr als alles andere, dass sie die Zeit zurückdrehen könnte, dass wieder Donnerstagmorgen wäre … bevor das alles angefangen hatte. Bevor die Welt sich verändert hatte.
Sophie lehnte die Stirn an das kühle Glas. Was würde geschehen? Was sollte sie tun? Nicht nur im Augenblick, sondern in den kommenden Jahren? Ihr Bruder hatte seine Zukunft noch nicht geplant. Jedes Jahr wollte er etwas anderes werden: Computerspielentwickler, Programmierer, Profifußballer oder Rettungssanitäter. Für sie dagegen stand schon lange fest, was sie einmal machen wollte. Seit der Zeit, als ihre Lehrerin in der ersten Klasse sie gefragt hatte: »Was möchtest du denn einmal werden, wenn du groß bist, Sophie?«, hatte sie die Antwort gewusst. Sie wollte Archäologie und Paläontologie studieren wie ihre Eltern, die Welt bereisen und die Vergangenheit erforschen, vielleicht ein paar Entdeckungen machen, die Ordnung in die Geschichte brachten. Doch das war jetzt nicht mehr möglich. Über Nacht hatte sie feststellen müssen, dass das Stu dium von Archäologie, Geschichte und Geografie nutzlos geworden war … Die Lehrinhalte stimmten ganz einfach nicht mehr.
Die Welle von Gefühlen, die sie plötzlich überrollte, überraschte sie. Ihre Kehle brannte und sie spürte Tränen auf ihren Wangen. Mit den Handflächen wischte sie sie ab.
»Hallo.« Beim Klang von Joshs Stimme zuckte sie zusammen. Sie drehte sich zu ihrem Zwillingsbruder um. Er stand in der Tür, das Steinschwert in der einen Hand, einen kleinen Laptop in der anderen. »Kann ich reinkommen?«
Sie lächelte. »Seit wann fragst du das?«
Josh betrat das Zimmer und setzte sich auf den Rand des Doppelbetts. Vorsichtig legte er Clarent vor sich auf den Boden und den Laptop auf seine Knie. »Es ist vieles anders geworden, Schwesterherz«, sagte er und seine blauen Augen schauten besorgt.
»Dasselbe habe ich auch gerade gedacht«, erwiderte sie.
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