Nichts als Erlösung
geben.
Sonntag, 2. August
Sehnsucht. Irgendwo in ihr wächst sie heran. Sehnsucht nach Stille, nach Nichtstun, einem Ort ganz weit weg. Trotz des Ermittlungsdrucks, trotz ihrer Unruhe, trotz dieses merkwürdigen Gefühls von Verbundenheit mit dem blonden Toten – oder vielleicht gerade deswegen. Der Tatort ist eine Provokation. Die Tat ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Der Täter will Aufmerksamkeit – für sich, für den Toten, warum auch immer. Ist das die Wahrheit? Vielleicht, ja, die Wahrheit des Täters. Doch die seines Opfers ist eine andere, und vielleicht war sein Opfer ja wirklich nicht unschuldig, vielleicht haben sie es tatsächlich mit einem Racheakt zu tun.
Der Täter war ein Mann, das glaubt sie zu wissen. In jedem Fall war der Täter etwa so groß wie sein Opfer, das hat Ekaterina Petrowa anhand des Schusskanals rekonstruiert. Judith versucht, sich die beiden Männer vorzustellen. Die grausame Intimität des gemeinsamen Wartens, Körper an Körper, lebendig noch, warm. Und dann der Schuss, die immense Zerstörungskraft. Hat wirklich hiemand in der Altstadt etwas gehört oder gesehen? Alle, die sie bislang befragt haben, behaupten das. Niemand hat den Toten bislang vermisst gemeldet, auch Anfragen in Athen und bei Interpol haben nichts ergeben. Fast ist es so, als sei dieser Mord gar nicht geschehen, und doch ist er real.
Die Tatwaffe war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Pistole, steht im Gutachten der Ballistiker. Aber eine Patronenhülse haben sie am Tatort nicht gefunden, was die Schlussfolgerung nahelegt, dass der Täter sie an sich nahm und also nicht sofort nach dem Schuss geflohen ist. Und das heißt auch, dass er am Tatort gewartet haben kann, bis sein Opfer entdeckt wurde. Dass er die Amerikaner beobachtet hat, die Amerikaner und sie.
Hunger, sie hat Hunger, Hunger und Durst, auf einmal fällt ihr das auf. Der Vormittag ist mit Besprechungen und Vernehmungen nur so dahingerast. Manni hat stundenlang die Aufnahmen der Überwachungskameras aus dem Hauptbahnhof überprüft, ohne den Toten irgendwo zu entdecken. Jetzt hat er sich verabschiedet, ist unterwegs zu einem privaten Termin, über den er nichts sagen will. Von wo ist das Opfer gekommen, wenn nicht vom Hauptbahnhof? Es ist völlig unmöglich, das ohne konkreten Hinweis zu erahnen, genauso unmöglich, wie alle Passagierlisten der Flüge zu überprüfen, die in den letzten Tagen aus Griechenland in Köln, Düsseldorf, Frankfurt oder wer weiß wo in Deutschland landeten.
Judith steht auf, tritt ans Fenster des winzigen Eckzimmers, das sie im Winter als Einzelbüro bezog, um trotz des Verbots im Präsidium noch unbehelligt zu rauchen. Ihr Mund ist staubtrocken. Jeans und T-Shirt kleben an ihrer Haut, als wären sie niemals frisch gewesen. Die Klimaanlage kommt schon seit Tagen nicht mehr gegen den Sommer an, die Luft, die durchs offene Fenster dringt, riecht nach heißem Asphalt und nach Stadt. Judith trinkt einen Rest lauwarmes Wasser direkt aus der Flasche, wirft sie in den Abfalleimer und versucht, nicht ans Rauchen zu denken, sondern sich auf die Fakten zu konzentrieren. Fakten, die Grundlage jeder Ermittlung, der Schlüssel zur Lösung, auch wenn die Summe aller Fakten niemals die ganze Wahrheit enthüllt.
Der Tote war Nichtraucher, etwa 40 Jahre alt, 1,83 Meter groß, 78,2 Kilogramm schwer. Seine letzte Mahlzeit bestand aus Orangensaft und einer Pizza mit Thunfisch und Zwiebeln. Auf seiner Haut und Kleidung finden sich keine Abwehrverletzungen, keine Fremd-DNA, keine Fingerabdrücke. Die einzige Spur, die der Täter möglicherweise hinterließ, sind ein paar schwarze Baumwollfasern auf dem T-Shirt-Rücken seines Opfers, vielleicht stammen die aber auch woandersher.
Sie denkt an den Sand in den Schuhen des Toten, ein Gemisch feinster Muschelpartikel, so viel steht nun fest. Sie denkt an das Meer. Wellen, die auf einen Strand schlagen, die Gischt auf dem Sand, die salzige Kühle. Sie hängt sich ihre Umhängetasche über die Schulter, geht ins WC und schöpft sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie sieht sich ein paar Sekunden lang in die Augen, nimmt dann den Aufzug ins Erdgeschoss.
In der Eingangshalle des Polizeipräsidiums scheint die Klimaanlage noch zu funktionieren, die Kühle ist ein Schock auf ihrer Haut. Der junge Kollege am Empfang hat rosige Wangen und sehr hellblonde Haare. Er winkt Judith zu sich und gibt ihr einen Brief.
»Den hat vorhin jemand abgegeben.«
»Wer? Wann?« Sie sieht sich um. Die Halle ist
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