Nichts als Erlösung
leer.
Der Polizeimeister zuckt die Schultern. »Tut mir leid, hab ich nicht gesehen, vorhin war hier ziemlicher Trubel.«
Sie nimmt den Umschlag entgegen und mustert ihn. Kein Absender. Keine Briefmarke. Ihr Name mit einer altmodischen Schreibmaschine getippt. Innen drin steckt ein Foto, das eine ockerfarbene Fläche zeigt. Nur das, nichts weiter. Vor ein paar Tagen hat sie schon einmal so ein Foto bekommen, in einem ganz ähnlichen Kuvert, doch das war, soweit sie sich erinnern kann, regulär frankiert und lag in ihrer Tagespost. Ein Verrückter, hat sie gedacht und das Foto nicht weiter beachtet.
Sie steckt den Brief in ihre Tasche und durchquert die Empfangshalle in Richtung Kantine. Jeder kann dort essen gehen, nicht nur Polizisten. Bürgernähe ist das Ziel. Transparenz. Vertrauensbildung, auch wenn sich die Beamten unter den wachsamen Blicken der Bürger beim Essen zuweilen wie Zootiere fühlen.
Der Geruch von Frittierfett und Kaffee schlägt ihr entgegen, sobald sie die Glastür geöffnet hat. Der Hauptandrang ist schon vorbei, drei Rentner sitzen an einem Fenstertisch und löffeln Pudding, ein paar Kollegen von der Streife und von anderen Kripo-Dezernaten trinken Kaffee.
Jemand beobachtet mich. Jemand kommt mir zu nah. Das Gefühl ist so intensiv, dass Judith herumschnellt.
»Frau Krieger! Hallo!« Der Reporter Zobel läuft auf sie zu. Lächelnd, den KURIER AM SONNTAG in der Hand. Ganz offenbar hat er hier auf sie gewartet.
Sie starrt ihn an, fühlt den Schweiß zwischen ihren Brüsten und auf der Stirn, sieht im selben Moment wieder die Gaffer im Park vor sich, die Blitzlichter der Kameras. Selbst mithilfe der Kollegen ist es ihr nicht gelungen, alle Personalien zu erfassen. Nicht einmal die Gesichter derjenigen, die ihr ganz nah kamen, könnte sie verlässlich beschreiben. War der Täter einer von ihnen? Der Reporter wird es ja wohl nicht gewesen sein. Trotzdem darf sie ihn nicht länger ignorieren. Als Zobel sie nach der Aufklärung des Priestermords für ein Kurzporträt interviewte, hat sie ihn unterschätzt. Ein Praktikant, hat sie damals gedacht. Harmlos, bedeutungslos und leicht zu lenken. Im Nachhinein hat sie dann erfahren müssen, wie viele Geschichten er schon geschrieben hat und wie hartnäckig er sein Ziel verfolgt, sie zu einem größeren Porträt zu überreden.
»Frau Krieger?«
Sie sieht dem Reporter direkt in die Augen. Er ist nur wenig größer als sie. Zu klein, um als Täter infrage zu kommen. Zu jung vielleicht auch. Sie senkt den Blick auf die aufgeschlagene Zeitung. Im Zentrum prangt eine Großaufnahme von ihr vor dem Leichenwagen. Ihre Locken hängen ihr wirr ins Gesicht, ihr Mund steht halb offen, ihre nackten Beine und Arme wirken bleich und grotesk, die Brüste unter der Pistole zeichnen sich viel zu deutlich ab. Sie war nicht im Dienst. Sie hatte einfach irgendetwas angezogen. Sie hatte nicht mit einem Einsatz gerechnet.
»Es gibt andere Fotos von Ihnen.« René Zobels Stimme wird ganz weich, wie schmelzendes Karamell. »Nicht so vorteilhafte wie dieses. Ich habe diese Fotos natürlich nicht veröffentlicht. In Ihrem Interesse, ich denke, dafür …«
»Wollen Sie mich erpressen?« Ihre Stimme ist zu wütend, zu laut. Die Rentner schauen von ihrem Pudding auf, die Kollegen heben irritiert die Köpfe.
»Erpressen, um Himmels willen!« Der Reporter hebt die Hände, als wolle er sich ergeben. »Ich möchte nur …«
»Was?«
»Ein kleines Entgegenkommen Ihrerseits. Kooperation. Informationen.«
»Dann wenden Sie sich an die Pressestelle. Es sei denn, Sie haben mir etwas mitzuteilen, das für die Ermittlungen relevant ist.«
»Nein, ich …«
Er sieht sie an. Unverwandt. Ohne zu blinzeln. In Vernehmungen ist dies ein Indiz für eine Lüge. Meistens. Nicht immer. Weiß er etwas, oder blufft er nur, um sich die nächste Story zu sichern?
Er weiß etwas, denkt sie, doch bevor sie entschieden hat, wie sie ihn zum Reden bringt, stehen die Streifenpolizisten von ihrem Tisch auf und kommen auf sie zu, und das löst den KURIER-Reporter aus seiner Erstarrung. Er verabschiedet sich hastig und verlässt die Kantine, dicht gefolgt von den Polizisten, und im nächsten Moment ist sie schon nicht mehr so überzeugt davon, dass er wirklich etwas von Bedeutung zu sagen hat.
Sie holt sich einen Salat und ein Wasser und setzt sich in eine Nische. Auch die Kollegen vom Einbruch und die Rentner brechen nun auf, außer ihr und dem Kantinenpersonal ist niemand mehr hier. Doch ihr
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